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Wedel: Das Uebersinnliche in der deutschen Litteratur eto. 679
bulismus mit seinem alternirenden Bewuestsein, poetisch
werthvolle Gebilde ergeben, haben wir bei Heinrich v. Kleist
gesehen; gleichzeitig aber konnten wir nicht verhehlen, dass
sich der gleiche Stoß für einen doch immerhin nicht ungewandten
Dramatiker wie Lindau zu spröde erwiesen hat.
Jedenfalls sind all diese Erscheinungen keine ungefährlichen
Vorwürfe für einen Schriftsteller. Wird er derselben nicht
Herr, so hat er, ausser seinem Rufe, auch einer jungen
aufstrebenden Wahrheit geschadet, oder aber vielleicht viel
Unheil in unklaren Köpfen angerichtet. Und darum ist es
bedauerlich, dass wir unter den Chorführern der deutschen
Sänger von heute Gleichgiitigkeit oder Gegnerschaft finden.
Ehedem war das anders. Aus dem Beginne des Jahrhunderts
konnten wir Namen von anderem Klange anführen. Aber
es entspricht dies der geistigen Strömung unserer Zait.
Früher scheuten sich Aerzte und Naturforscher keineswegs,
untersuchend an unser Gebiet heranzutreten; heute darf ein
Virchow es wagen, das Bestehen einer magnetopathischen
Klinik in Berlin im Beginne dieses Jahrhunderts als Beispiel
für den damaligen tiefen Stand der Wissenschaft hinzustellen
, und die Gesetzgebung darf darauf hinsteuern, dass
die Beschäftigung mit derartigen Gegenständen als Kurpfuscherei
und Oharlatanerie gestraft und gebrandmarkt
wird. Und das ist wohl auch schuld daran, dass bei unserer
Besprechung Namen wie Freytag, Geibel,*) Hamerling, Keller*)
Dingelstedt, Scheffel, Kruse und andere von ähnlich gutem
Klange leider fehlen. Jenseits der Vogesen und des
Kanales ist es damit anders bestellt. Und wenn wir in
einem späteren Aufsatze einen Blick auf unsere westlichen
Nachbarn werfen, so werden wir sehen, dass dort sich ein
Schriftsteller ersten Ranges * mit derartigen Dingen beschäftigen
darf, ohne Gefahr zu laufen, dass er Ruf und
Leserkreis einbüsse, wie bei uns, wo die Macht der
materialistischen Orthodoxie in der Wissenschaft noch nicht
genügend erschüttert ist, um dem grossen Lesepublikum ein
vorurteilsfreies Denken zu ermöglichen.
*) Geibel und Keller nicht so ganz, wie aus „Psych. Studien"
August-Heft 1897 S. 456 ff. und November-Heft 1898 S. 612 ff. erhellen
dürfte. — Oer S.ekr. d. Red.
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