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Dr. Maier: Bettet den Nachwuchst
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Presse täglich in das Herz des Volkes ausgiesst. Man darf
auch nicht mehr überrascht sein beim Anblick aller jener
zahlreichen Fälle von Gewissensbankerott, den wir bei
unseren Regierungs- und Volksvertretern wahrnehmen.
Wer hätte es für möglich gehalten, dass am Ende des
19, Jahrhunderts 3000 unter dem Vorwand einer patriotischen
Feier versammelte Personen sich zu dem Ruf vereinigen:
„Es lebe Henry der Fälscher" und einem gewissenlosen
Schurken ein Denkmal seiner Schande zu errichten be-
schliessen! Noch nie hat die geheime Lehre der „guten
Väter" so viel Erfolg gehabt. Das Verbrechen ist nicht
mehr das Verbrechen, es hat ja die Interessen dieser oder
jener Kaste oder Coterie gefördert! —
Ach! Herr Letourneau, löschen Sie iene Zeilen aus, iene
Zeilen, auf welche Sie so stolz sind und welche die
evolutionistische, materialistische Schule in goldene Buchstaben
graben liess: „Im Lichte des Transformismus (der
Lehre von der allmählichen Umbildung) klärt sich alles auf.
Der Ausdruck „gut" hat zwei Bedeutungen, die enger mit
einander verbunden sind als es auf den ersten Anblick
scheint. Für das wenig entwickelte Individuum wird ein
Akt für gut erklärt, sobald er ein Vergnügen, einen
besonderen und unmittelbaren Vortheil verschafft. Es ist
dies die Schlussfolgerung des Buschmannes, der sagt: „Man
thut etwas Böses, indem man mir mein Weib nimmt; ich
thue eine gute Handlung, indem ich das Weib eines anderen
raube.a
Ebenso ist nach der Moral der Rothhäute die Ermordung
eines Feindes sehr löblich (ist dies nicht auch
die Moral eines Jacques CUment und einfcs Ravaillac ?); sich
tödten lassen dagegen ist eine tadelnswerthe und sogar
unmoralische Handlung,.. Aber die Notwendigkeiten des
sozialen Zusammenlebens unter der primitiven Menschheit
erweiterten rasch den Begriff des sittlich Guten." Wollte
man ausschliesslich diese materialistische Theorie der Entwicklungslehre
zu Grunde legen, so müsste die gegenwärtige
civilisirte Welt nur von vollkommen sittlichen Bewohnern
bevölkert sein, so gross ist der intellectuelle Unterschied,
der zwischen den Wilden, von denen Herr Letourneau spricht,
und den Oivilisirten besteht.
Würden aber die Wilden, die der eminent gelehrte
General-Sekretär der Gesellschaft für Anthropologie im
Auge hat, die gegenwärtige französische Presse lesen, welch'
traurige Meinung bekämen sie von dem Scharfsinn des
Herrn Letourneaul „Was für Narren sind doch diese Gelehrten
!^, so würden unsere „primitiven" Wilden ausrufen.
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