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Dr. Maier: Kettet den Nachwuchs!
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„Ei was! würden die Wilden sagen, dahin führt also
die Bibel, das Evangelium, der Katechismus, die Grammatik,
die Orthographie, die Arithmetik, die Geschichte, die
Geographie, die Physik, die Chemie, die Astronomie, die
Philosophie! Ach, die Oivilisirten mögen doch all diese
schönen Sachen für sich behalten, wir wollen nichts davon
wissen, da ja all dies unverständliche Zeug sie nicht verhindert
hat, weit unsittlicher als wir zu werden!
Unsere Wilden könnten hinzufügen: „Ihr Maudsley sagte
also mit ßecht, die Civilisation könne das Brutum noch
brutaler und besonders noch gefährlicher machen, als der
Naturzustand, und Goethe, verderblich sei alles, was die
Köpfe frei macht, ohne uns die Herrschaft über unseren
Charakter zu geben.*)
Ist der Gedanke nicht erschreckend, dass so ziemlich
die Hälfte aller Franzosen, sei es aus Gleichgültigkeit oder
als Mitschuldige, die Spekulationen der Nationalisten ge-
*) Die Klerikalen geben der „Schule ohne Gott" die Schuld an
der Vermehrung der Verbrecherwelt ganz besonders unter den Kindern.
Diese Beschuldigung ist falsch wie so viele andere, welche aus derselben
Quelle stammen. Die Verweltlichung der Schule datirt in
Frankreich von 1881 und Herr Alfred touillee, den man nicht als Freund
der Laienschule wird ausgeben wollen, sagt uns hierüber Folgendes:
„Von 1826—1880 hatten die Verletzungen des gemeinen Rechts unter
den Erwachsenen sich verdreifacht, das Verbrecherthum von 16 bis
20 Jahren sich vervierfacht, unter den jungen Mädchen verdreifacht.
Die Zahl der gerichtlich verfolgten Kinder hatte sich verdoppelt." (Aus:
„Die jungen Verbrecher"). Ist es nöthig hinzuzufügen, dass der hauptsächliche
Grund dieses sittlichen Verfalls mit dem Augenblick begann,
wo man das intime Verhalten der herrschenden Klassen, der kirchlichen
wie der weltlichen, mit der von ihnen den Massen gelehrten Moral zu
vergleichen begann? Man sah die Lüderlichkeit, die schreiendsten
Missbräuche, die abscheulichsten Verbrechen nur allzu oft bei denen,
die sich als Repräsentanten eines gütigen und gerechten Gottes ausgaben
oder die Völker regieren wollten. Die Entdeckung der „beiden
Moralen", welche gerade diejenigen, die sich am meisten davor hätten
in Acht nehmen sollen, praktisch öbten, nahm der reinen Moral „ohne
Beisatz" jeden Zauber. Mögen sich also die herrschenden Klassen nicht
über den Verlust ihres (auf Autoritätsglauben beruhenden) „Prestige"
und über das zunehmende Heer derjenigen wundern, die ihnen Rache
und Verderben geschworen haben. Sie könnten sich nur durch Wiedergutmachen
retten, nicht nur unter dem materiellen, sondern auch unter
dem moralischen Gesichtspunkt In der unsichtbaren Ordnung
der Dinge geht so wenig wie in der sichtbaren irgend
etwas verloren. Man kann nichts Geschehenes vertuschen ausser
durch Wiedergutmachen, indem man den entstandenen Sehaden reparirt.
Kein Schutz, kein Wissen, kein Gebet kann auch nur das kleinste
Stückchen davon zerstören. Dies ist eine wissenschaftliche Thatsache
in der vollen Bedeutung des Worts. Ja, Herr Doctor, die herrschenden
Klassen können den schönen Gedanken auf sich anwenden, den ich
Ihnen entlehne: „Unser üebel von heute ist der Schmerz
anderer von gestern."
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