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Dr. Maier: Naturwissenschaftliche Seelenforschung. 95
geknüpft. Die anatomische Feststellung belehrt uns ferner,
dass willkürliche, d. h. solche Bewegungen, die sich nicht
einfach als Reaktionen des lebenden Organismus auf den
unmittelbaren Reiz darstellen, sondern eine auf die Zukunft
gerichtete Absichtlichkeit erkennen lassen, an das Vorhandensein
von funktionsfähigen Nerven innerhalb des
Organismus gebunden sind. Endlich beweist uns der
physiologische Versuch, dass die peripher veranlassten
und central zu den nervösen Centren (centripetal) verlaufenden
Nervenerregungen zu ßewusstwerdungen und so hin zum
Erkennen, dagegen die central veranlassten und peripher
zu den Muskeln (centrifugalj verlaufenden Erregungen zum
Zustandekommen von Muskelbewegungen und so hin auch
von Willkürbewegungen (wenigstens für die uns
bekannte tellurische Erscheinungsform der Individualität!
Red.) nothwendig sind. Die beiden Endstücke, die
sensorischen und motorischen Nervenerregungen,
erschöpfen jedoch keineswegs den Zusammenhang der an,
in und mit einem als lebender animaler Organismus
bekannten Objekte ablaufenden Veränderungen, der sich
uns als Bewusstsein dokumentirt; sie bilden nur die Grenzen,
innerhalb welcher jener Theil von Veränderungen sich
befindet. Das eigentliche Bewusstsein begreift vielmehr
gerade jene fehlende Reihe von Veränderungen in
sich, welche der sensorischen Erregung nachfolgen
und welche der motorischen Innervation
vorangehen. Die Summation der Reize ist ein Mittelglied,
das sich zwischen Erregung und Reflexbewegung einschiebt.
Man hat versucht, die innerhalb der Ganglienzellen
vegetativer Nervenkomplexe ablaufenden ErregungsVorgänge
als eine Art „untergeordnetes Bewusstsein" zu bezeichnen.
Würde es sich aber so verhalten, so würde der Organismus so
viele Bewusstseine besitzen müssen, als er Ganglienzellen enthält
, welche Annahme durch die überall zu Tag tretende Einheitlichkeit
des Bewusstseins ad absurdum geführt wird.
Bezeichnen wir die zwischen sensorischen und motorischen
Nervenerregungen als Anfangs- und Endglieder dazwischen
liegenden unbekannten, aber wirklichen Vorgänge der
Bewusstwerdungen und Willensimpulsirungen als Ver-
änderungsthätigkeiten mit dem N amen „psychische Erscheinungen
" (Phänomene der bisher noch nicht näher
erforschten psychischen Kraftart), so können wir das
Dasein der letzteren innerhalb eines Organismus auch
schlechtweg als Bewusstsein bezeichnen.
(Portsetzung folgt.)
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