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110 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1899.)
angestellt. Er geht von der Thatsache aus, dass die geistigen
Fähigkeiten nicht immer durch Krankheit herabgesetzt
werden, sondern auch eine Erhöhung erfahren können. Nach
ärztlichen Beobachtungen verschwindet während einer heftigen
Krankheit oder beim Nahen des Todes der Wahnsinn, und
bei Schwachsinnigen zeigen sich plötzliche Spuren von Ge-
dächtniss und Urtheil. Auch bei Gesunden treten in Folge
einer vorübergehenden körperlichen Ueberarbeitung und beim
Nahen des Todes dieselben Phänomene auf. Fere hat vier
Sterbende beobachtet. Die Erinnerung war wenig ausgedehnt
und bezog sich nur auf unbedeutende Dinge. Da trat der
merkwürdige Fall ein, dass drei der Sterbenden sich kurz
vor ihrem Tode an Ereignisse erinnerten, die vor 15, 18
und 20 Jahren sich zugetragen hatten. Von Visionen konnte
bei ihnen nicht die Rede sein. Fere glaubt dies damit erklären
zu können, dass die Ueberreizung, die kurz vor dem
Tode in Nerven und Muskeln eintritt, auch eine psychische
Ueberreizung zur Folge hat. Das Bewusstsein ist noch klar,
und der Sterbende sieht den Tod deutlich vor sich. Der
Gedanke an den Tod kann dann den Ideenverlauf so beschleunigen
, wie es nach Ferefs Erfahrungen der Fall war.
d) Von einem bemerkenswerthen Wahrtrauir, dessen
ergreifender Bericht die Runde durch verschiedene Tagesblätter
machte, erzählte jüngst die „Köln. Ztg.", wie folgt:
„Ech kann nit helpe." Vor einigen Jahren starb in
Ledenbrook ein Schiffer, den ein Traum in ein furchtbares
Schicksal gebracht hatte: er sah in einer Aprilnacht im
Schlaf seinen einzigen Jungen ertrinken, am Hafensand, wo
die Knaben spielten, und wusste am Morgen nur noch, wie
er selber unaufhörlich geschrieen habe: Ech kann nit helpe!
A.lleS war so schrecklich gewesen, dass er auch im
Wachen sein Entsetzen nicht los wurde und an dem Tage
den fünfjährigen Klaas zum ersten Mal mit ins Boot nahm.
Während der ganzen Fahrt hing die Angst wie mit tausend
Gewichten an seinen Gedanken. Bei jedem Knattern der
Segel oder beim Knarren des Steuers glaubte er wieder in
dem furchtbaren Traum zu sein, und selbst aus dem eintönigen
Rauschen am Bug hörte er nichts als den schrecklichen
Ruf: Ech kann nit helpe.
Sie kamen glücklich an ihren Ort. Er lud mit dem
Knechte die Waaren aus und andere dafür ein und fuhr
zurück. Schon konnte er den alten Steinhund auf der
Hafenmauer erkennen, als ein Kräuseln in die glatte Fläche
lief und gleich darauf ein schwacher Blitz zuckte. Das
nahm ihm alle Ruhe. Er schrie den Knecht an, die Segel
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