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254 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1889.)
die Bewegung geknüpft sein, die erforderlich ist, um das
Wort auszusprechen. Alles Denken ist, vulgär gesprochen,
stilles Beden. Ueberlegt man z. B. einen Satz, ohne ihn
niederzuschreiben, so spürt man bei starker Aufmerksamkeit
an sich selbst recht kräftige Zungenbewegungen. Diese
Bewegungen werden an Stärke zunehmen, wenn man einen
Gedanken mit aller Schärfe verfolgt oder sich in starken
psychischen Affekten befindet. In solchen Fällen steigern sich
die Bewegungen der Stimmbänder, Zunge und Lippen bis zu
einem Flüstern. Da dieses Flüstern nicht absichtlich hervorgerufen
wird, können wir es unwillkürliches Flüstern nennen.
Diese Theorie hat Lehmann auf Grund von tausend
Experimenten glänzend bewiesen. Er verwandte zwei Hohlspiegel
, die in ihren Brennpunkten Oeffnungen zeigten, und
stellte sie so auf, dass ihre Achsen in ihrer gegenseitigen
Verlängerung lagen. Bekanntlich wird bei solcher Aufstellung
jeder Laut, der von dem Brennpunkt des einen
Spiegels ausgeht, in dem des anderen gesammelt. Befindet
sich der Mund des A an dem einen, das Ohr des B an dem
anderen Brennpunkt, so wird B auch das leiseste Flüstern
des A hören. „Es zeigte sich nun, dass der Absender A
nur mit grösster Anstrengung schwache Sprechbewegungen
unterdrücken konnte, wenn er eine Zeit lang (z. B.) an eine
bestimmte Zahl dachte. Er konnte den Mund fest geschlossen
halten und anscheinend nicht den geringsten Laut von sich
geben, aber wenn er nicht die Bewegungen der Zunge und
der Stimmbänder mit aller Gewalt hemmte, so hörte der
Empfänger B ein schwaches Flüstern." Selbstverständlich
wird dieses Flüstern um so stärker werden, je weniger man
seine unwillkürlichen Bewegungen zu beherrschen suchte.
Nun scheint es allerdings willkürlich, die Beobachtungen
mit Hohlspiegel auf Versuche zu übertragen, wo solche gar
nicht vorhanden sind. Lehmann hat aber die Hohlspiegel in
Wirklichkeit nur der Bequemlichkeit halber benutzt, nachdem
er zunächst mit hypnotisirten Personen experimentirte.
Zwischen dem Hypnotiseur und seinem Medium findet
nämlich genau die gleiche Wechselwirkung statt. Das rührt
daher, dass in manchen Stadien der Hypnose sich Gehörs-
Hyperästhesien entwickeln, vermöge deren das Medium eine
ans Unglaubliche grenzende Gehörsschärfe entwickelt. In
solchen Zuständen vermag es — wie Lehmann bewiesen hat
— auch das unwillkürliche Flüstern seines Hypnotiseurs
zu hören. —
Wir kehren nun zum vorliegenden Fall zurück und
prüfen, ob die Vorbedingungen für die Lehmann'schen
Experimente vorlagen.
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