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274 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1899.)
sondern das grosse unermessliche Feld der zukünftigen
Forschung ist die Experimentalpsychologie» Seitdem die
Erkenntniss sich Bahn bricht, dass die einseitige physiologische
Psychologie in einer Sackgasse festgefahren ist, fordert sie
als Ergänzung die moderne Untersuchungsmethode, die dem
anbrechenden Jahrhundert das Gepräge geben wird. Der
Umschwung wird sich violleicht schneller vollziehen, als wir
denken, und zwar auf der ganzen Linie, nicht nur im
einzelnen Fach, wie in der Medizin, in welcher Hypnotismus,
Suggestion und Magnetismus jetzt schon eine solche Rolle
spielen. Es gehört nur ein gewisser Muth dazu, gegen eine
herrschende Meinung das Richtige zu erkennen und zu vertreten
, wie z. B. Professor v. Nussbaum, als er seiner Zeit
auszusprechen wagte: Der (animalische) Magnetismus ist die
Medizin der Zukunft, Solcher Muth allein kann der Wissenschaft
nützen, am meisten der Wissenschaft vom Menschen,
jenes Problem, über sich selbst und seine Bestimmung klar
zu werden, das, wie Professor Schmoller noch neulich ausdrücklich
hervorhob, das Höchste für die Erkenntniss des
Menschen ist. —
Die Einseitigkeit des absoluten Materialismus und die
Willkür seiner Hypothesen konnte natürlich nur so lange
unangefochten bleiben, wie seine apodiktische Art, zu
allgemeinen bequemen Behauptungen zu gelangen, noch die
Mehrzahl durch ihre scheinbare Einfachheit verblüffte. Die
Hauptvertreter des seichten Materialismus — der als
Philosophie nur deswegen klar und durchsichtig zu sein
scheint, eben weil er seicht ist — beriefen sich immer auf
den „gesunden Menschenverstand", ohne in ihrer hartnäckigen
Beschränktheit einzusehen, wie wenig der blosse Verstand
mit Hülfe unserer äusseren Sinne die Welt überhaupt zu
begreifen im Stande ist. So kam es, dass ein Büchner mit
seinem Werk „Kraft und Stoff" eine Weile als der Mann
des Tages in weiteren Kreisen galt. Selbstständig zu denken
ist nicht Jedermanns Sache, und unkritische Köpfe nehmen
nur zu bereitwillig ein fertiges „System" an, das sie der
Mühe des eigenen Denkens überhebt. Aber die Welt „sie
bewegt sich doch", und so hat man denn auch bald eingesehen
, dass alle Die, welche sich so viel auf ihren gesunden
Menschenverstand zu Gute thun, gar sehr an einer krankhaften
und gefährlichen Hypertrophie ihres „gesunden"
Menschenverstandes zu leiden pflegen, deren Hauptsymptome
in geistiger Kurzsichtigkeit, verbunden mit geistigem Hoch-
muth und Unfehlbarkeitsdünkel bestehen. Sie und ihre
Anhänger werden daher auch nicht müde, uns ihre billige
Weisheit, selbst im Angesicht neuerer Entdeckungen, immer
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