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286 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1899.)
Kleider zerrissen, ja eines Tages war sogar der Eegenmantel
des Doctors, den er für die Landvisiten brauchte, von dem
Garderobenständer im Korridor nach der Küche gewandert
und lag dort klein zusammengefaltet in einer Pfanne. Der
Bruder des Arztes sah die Gegenstände unter seinen Händen
verschwinden, das Fräulein konnte ihre Hüte und Toilettensachen
nicht mehr finden. — Lucia hörte nicht nur Stimmen,
sondern erblickte auch Gestalten. So will sie oft einen
Mann auf dem Hofe gesehen haben, der an die Thür
gepocht oder nach dem Doctor gefragt hatte und im selben
Augenblick verschwunden war. Eines Tages ward sie
beauftragt, Tabak zu holen. Da sagte eine Stimme auf der
Treppe zu ihr: „Schau' auf das Fensterbrett!" Und wirklich
fanden sich dort vier Stück Tabak zu zwei Soldi und zwei
zu einem Soldi vor. Die Gestalt, die ihr bald hier, bald
dort erschien, soll stets in einen langen Mantel gehüllt
gewesen sein. Die Familie Senzio erzählt noch eine grosse
Menge dieser sonderbaren Geschichten. Sie wandte sich
schliesslich in ihrer Noth an den Bischof, der den Pfarrer
schickte, um das ganze Haus bis in die dunkelsten Winkel
mit Weihwasser zu besprengen. Aber auch mit dem Oel-
zweig kam kein Frieden in das Haus. Hierauf riethen die
Nachbarn, den Geist mit Süssigkeiten zn versöhnen. Sofort
wurden die leckersten Sachen nebst einem Glase Wein auf
das zur Treppe hinausführende Fensterbrett gestellt. Nach
kurzer Zeit war das Süsse verschwunden und der Wein
über die Treppe gegossen. Bald darauf bot man dem Geiste
ein reichliches Mittagessen an. Nach einigen Tagen lagen
die Maccheroni längs der Treppenwand, der Fisch und die
Früchte waren noch unberührt geblieben, nur das Fleisch
und das Zuckerwerk war fortgenommen. Auf dem Tischtuch
fand sich der Abdruck einer grossen, dicken Hand vor,
welche nicht die geringste Aehnlichkeit mit der langen,
mageren Hand Lucia's hatte. Letztere wollte seitdem immer
Stimmen hören, die nach Kuchen, Biscuit und anderen
Süssigkeiten verlangten. Gab man dem Wunsche des
Geistes nach, so hatte man wenigstens für einige Tage
Ruhe. —
Sollte das mit Leckerbissen zu versöhnende Gespenst
mit der fetten Hand vielleicht der Geist eines altrömischen
Schlemmers sein, der hier im glücklichen Kampanien vor
zweitausend Jahren ein Landhaus besass? Dass er die ihm
vorgesetzten Maccheroni und den Fisch verschmähte, deutet
fast darauf hin, denn wie kann ein an die üppigen Gastmähler
des Lucullus und an Muränen, welche mit Sklaven
gefüttert waren, gewöhnter Feinschmecker mit solchen
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