http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1899/0352
342 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1899.)
fertigende Vogel-Strauss-Manier, die sich einbildet, wenn sie
nur geflissentlich den Kopf hinter den Baum steckt und
die Dinge nicht sieht, so wären sie auch nicht da. Wer
vor dem schweren Geschütz der Thatsachen nicht kapitulirt,
wer sie nicht einmal der Prüfung und des Nachdenkens für
werth hält, der darf sich auch nicht wundern, wenn man
zuletzt über ihn hinweg zur Tagesordnung übergeht.
Will unsere offizielle Wissenschaft sich diesem Schicksale
aussetzen?
In England, Frankreich, Russland und Amerika haben
sich einzelne hervorragende Vertreter der Wissenschaft mit
den in Frage kommenden Erscheinungen beschäftigt, in den
meisten Fällen natürlich in der ausdrücklichen Absicht, sie
zu widerlegen. Aber sie haben ohne Ausnahme — soweit
sie dieselben wirklich zu prüfen hinreichende Gelegenheit
hatten — ihre Thatsächlichkeit anerkannt. Bei uns dagegen
hält man sie im grossen Ganzen noch immer nicht für
diskussionsberechtigt. Und doch wäre gerade die deutsche
Wissenschaft auf Grund ihrer achtunggebietenden Stellung
besonders berufen, mit ihrer Stimme nicht länger zurück-
zuhalten. Der Gegenstand ist spruchreif geworden, und
die ersten geistigen Führer unseres Volkes dürfen uns ihre
Meinung nicht länger vorenthalten. Mag das Endergebnis
dann ausfallen, wie es will, entweder sie tragen das Ihre
dazu bei, dass beklagenswerthe Irrthümer und Trugschlüsse
— wohl zu unterscheiden von Betrügereien — aufgedeckt
werden, damit dem weiteren Umsichgreifen dieser „Epidemie"
so bald wie möglich Einhalt geschieht; oder sie haben den
Freimutb, zu gestehen, dass es sich um neue Thatsachen
und objektive Wahrheiten handelt, deren allseitige Verbreitung
ihre heiligste Pflicht ist.
Kein vernünftiger Mensch wird im Ernste heute befürchten
, dass wir durch das unbefangene Studium des
Okkultismus wieder in den Aberglauben des vielgeschmähten
„finsteren Mittelalters" zurückfallen könnten. Das Gegentbeil
wird eintreten. Gerade durch die wissenschaftliche Aufklärung
müssen wir mit der Fackel der Wahrheit in so viele bisher
dunklen Gebiete hineinleuchten, um sie vermittels unserer
höheren Erkenntniss endlich ihres mystischen Dunkels zu
entkleiden. Dann wird es sich zeigen, dass die religiösen
Mysterien aller Völker und Zeiten, der antike Tempelschlaf,
die Orakel, die „schwarze" und „weisse" Magie des Mittelalters
, die Geheimnisse der Kabbala, die mannigfaltigen
Spukerscheinungen Dinge sind, die wir grösstenteils im
Hypnotismus, Somnambulismus und im Hellsehen und
Magnetismus wieder finden. Das Einzige, was sie verlangen,
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1899/0352