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Kraft: Vorkommnisse aus dem Leben eines früheren Seemannes. 377
Verhältnisse trat, erzählte ich auch selten von meinem Geschauten
, weil ich bald genug merkte, dass man mich
entweder für einen Wahnsinnigen oder für einen Lügner
hielt, während ich doch nur das schilderte, was Millionen
von Menschen als einfache Thatsache hinnehmen, nicht
werth, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. — Erlauben Sie
gütigst, dass ich Ihnen einige Episoden aus meinem Leben
mittheile, in der Erwartung, dass es Sie interessirt. Ich
war nämlich bis vor vier Jahren, da ich zu Schriftstellern
begann, Seemann von Beruf, habe mich in aller Herren
Ländern herumgetrieben und unter anderem mit indischen
Fakiren und arabischen Rufai-Derwischen intim verkehrt.
An dem Streit für und gegen den Spiritismus und verwandte
Fächer habe ich mich nie betheiligt; ich halte mich nicht
dazu für berufen, Skeptiker, die nun einmal an nichts
glauben wollen, was sie mit ihren fünf Sinnen nicht wahrnehmen
können, zu bekehren. Ihnen das Reisegeld nach
Indien zu geben, dazu langt meine Börse nicht; und
schliesslich fänden sie doch einen Grund, alles abstreiten
zu können. Ich glaube überhaupt, jeder hat Gelegenheit,
Wahrnehmungen machen zu können, die nicht so einfach
zu erklären sind, aber die meisten wollen einmal nicht.
Was mich anbetrifft, so bin ich durchaus kein mystischer
Träumer, eher alles anderej ich bin kerngesund, habe eine
eiserne Natur und bin noch jetzt sehr lebenslustig, bin auch
nicht sensitiv, habe keine Ahnungen und Visionen, habe
unter gewöhnlichen Verhältnissen nie einen Geist gesehen,
nie ein Klopfen gehört. Ich möchte nur einige Fälle
erwähnen, deren Wahrheit ich freilich schwer beweisen,
aber auf meine Ehre und Gewissen beschwören kann, und
die mir selbst nicht im Geringsten wunderbar vorkommen.
Als Junge besuchte ich in Chemnitz die Schule und
wohnte bei einer Familie, in welcher ausser mir noch ein
anderer Pensionär untergebracht war. Er hiess mit Vornamen
Alfred, war 18 Jahre alt, ging auf die höhere Gewerbeschule,
durfte also rauchen und Restaurationen besuchen, und
bekam hinter dem Rücken des Vaters von der Mutter
mehr Taschengeld geschickt, als ihm dienlich war. Eines
Nachmittags gingen die Pensionsmutter und ich aus.
Alfred blieb zu Hause, er wollte arbeiten. Wir waren etwa
zehn Minuten unterwegs, als die Frau plötzlich stehen blieb,
mir ganz merkwürdig aufgeregt vorkam und beide Hände
an die Schläfen legte. „Ich weiss nicht, Robert — ich muss
nach Hause — Alfred —!" Sie drehte um und rannte
zurück, so schnell, dass ich einen Hundetrab anschlagen
musste, um ihr folgen zu können; sie sprach nicht, wurde
Psvchiacho Stadion. Juli 1899. 26
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