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414 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1899.)
sehen. Man kann auch die Beobachtung machen, dass ein
Affe, wenn er aufrecht auf seinen Hinterbeinen geht, sich
sofort auf alle Viere niederlassen wird, sobald er in seinem
Rücken irgend eine Gefahr wittert. — Nun kommt noch
dazu, dass der Mensch in der früheren Zeit seiner Ent-
wickelung in ganz anderem Masse persönlichen Gefahren
ausgesetzt war, als heute. Der heutige Mensch kann
stundenlang auf einer Strasse gehf*n, ohne sich umsehen zu
müssen, aber das konnten unsere Voreltern nicht, da sie
sich weit weniger vor einem Ueberfall in Sicherheit befanden
. Insofern kann man sagen, dass die ängstliche ße-
sorgniss wegen der Vorgänge in unserem Rücken ein
uraltes Erbstück ist. Vielleicht hat die moderne Entwicke-
lung des Kulturmenschen noch das ihrige dazu gethan,
diese Gewohnheit zu erhalten. Die Erziehung lehrt uns,
dass e& nicht schicklich ist, die Aufmerksamkeit fremder
Menschen in dem Masse auf sich zu lenken, dass man der
Zielpunkt von Blicken wird. Demgemäss ist vielleicht das
Sichumschauen eine unbewusste Kontrolle dafür, ob
dies nicht der Fall ist. Warum glauben denn aber so und
so viele Menschen ein Gefühl dafür zu haben, wenn sie
von hinten angesehen werden, und dieses Gefühl auch
durch die Erfahrung bestätigt zu finden? — Man vergegenwärtige
sich, um dies zu verstehen, das Bild eineB grossen
Raumes, etwa eines gefüllten Hörsaales vor Beginn einer
Vorlesung oder eines Konzertes. Unwillkürlich wird eine
Person, die in irgend einer Weise, entweder durch eine
Einzelheit an ihrer Kleidung oder sonst durch ihr Aeusseres
oder auch durch ihre Bewegungen auffällt, die Blicke einer
Anzahl müssiger Zuschauer auf sich lenken. Weudet
sich die Person nun gerade nach der betreffenden
Richtung —- [Warum aber? Red.], so wird sie einem
solchen Blicke begegnen und diesen in Zusammenhang
mit ihrem „Gefühl'4 bringen. Nun kommt noch dazu, dass
ein gewisses Gefühl unter solchen Umständen in der Nackengegend
wirklich bestehen kann, aber dort nicht anders wie
in jedem anderen Körpertheile. Es wird hervorgerufen
durch Spanaungs- und Druck-Empfindungen, die in ganz
normaler Weise durch Haut, Muskeln, Bänder und Gelenke
hervorgerufen werden, aber erst jetzt in unser Be-
wusßtsein treten, da unsere Aufmerksamkeit auf
die betreffende Körpergegend hingezogen ist. [Aber
wodurch? Dieses „punctum saliens" hat Reichenbach mit
seiner Lehre der sich abstossenden, bezw. anziehenden,
odpositiven, bezw. odnegativen Ausströmungen weit einleuchtender
erklärt. — Red.]
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