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484 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 9. Heft. (September 1899.)
nicht zum Bewusstsein gekommen wäre. Warum sollte dies
nicht auch möglich sein? Die Philosophen beweisen mit Recht
seit langer Zeit, dass die Sinne uns nur täuschen; allerdings
könnte man ihnen mit demselben Recht ihre eigenen
Illusionen vor Augen führen, da sie sich berechtigt halten,
über Alles, was in ihre einseitigen Theorien nicht passt, und
was sie nicht erklären können, spöttisch zu lächeln. —
Meinem Programm gemäss will ich nun die letzte
Kategorie von Phänomenen besprechen und zwar diejenigen,
welche ich „Inkarnationen von Personen die dem Medium
und den Anwesenden unbekannt sinda genannt habe.
Es handelt sich hier um seit langer Zeit, z. B. einem
oder mehreren Jahrhunderten, Verstorbene. Wir haben sehr
merkwürdige Inkarnationen beobachtet, welche sich auf die
Zeit Ludwig XVI. und die Revolution beziehen. Leider
kann ich der Diskretion halbei, deretwegen ich überhaupt
gerade immer das Interessanteste weglassen muss, nicht
näher hierauf eingehen. Ich wende mich daher zu einer
anderen, nicht weniger bemerkenswerthen Inkarnation, nämlich
derjenigen eines jungen Mädchens, welches vorgab, gegen
das Ende des vierzehnten Jahrhunderts in Arabien gelebt
zu haben und im Jahre 1401 die Gemahlin eines Hindufürsten
geworden zu sein. Sie nannte sich Simadini und
ihren Gatten Sivrouka Nayaca; sie lebten meistentheils in
Tscbadraguiri, einer Stadt in JKanara in Hindostan. Später
als Sivrouka starb, theilte die arme Simadini das Schicksal
der Hinduwittwen; sie wurde auf dem Scheiterhaufen ihres
Gatten verbrannt. —
Was halten Sie von dieser Erzählung ? Ist sie nicht ein
kleines Drama? Allerdings, aber sie spielt theilweise in
einer der unbekanntesten Regionen des englischen Indiens.
Ist es eine Erfindung oder Wahrheit? und muss man nicht
in einem, wie im anderen Falle annehmen, dass das Medium
etwas wiedergegeben hat, was es entweder in seiner reichen
Phantasie gesehen, oder was es in irgend einem Geschichtswerk
gelesen hat? Um diese doppelte Erage zu beantworten,
wird es nöthig sein, auf den Gegenstand näher einzugehen.
Zuerst muss ich bemerken, dass bei der Lebensgeschichte
der Simadini, wie auch bei einer anderen noch umständlicheren
, welche ich nicht erzählen kann, die Inkarnationsoder
Visionsphänomene, welche in einer ziemlich grossen
Anzahl von Sitzungen erhalten wurden, nicht in der gewöhnlichen
Reihenfolge eintraten. Bei der Beschreibung des
Lebens eines Menschen verfährt man doch gewöhnlich chronologisch
; d. h. man beginnt mit der Kindheit des Betreffenden
und kommt dann zu seiner Jugend, zu seinem
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