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492 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 9. Heft. (September 1899.)
irdischen Welt, ist im Laufe des letzten Decenniums bereits
so viel geschrieben und gestritten worden, dass es von Seiten
des Laien nur noch ein überflüssiges Bemühen wäre, für
dieses Thema eine Lanze splittern zu wollen, zumal bedeutende
Männer der Wissenschaft den Traum und seine
Deutung längst aus dem Dunkel des Aberglaubens hervorgezogen
und ihm eine Aufmerksamkeit geschenkt haben,
die dem ernsten Denker nicht gleichgiltig bleiben kann.
Meine Absicht ist nur, in Folgendem darzulegen, wie
eines meiner besten Lieder einem Traume seine Entstehung
verdankte.
Es war in den Jahren 1880—1881, als ich, damals ein
blutjunges Mädchen, den Sommer im Ostseebade Hapsal
(Esthland), in dem sich die russische Zarenfamilie früher mit
Vorliebe aufhielt, verbrachte. Dort hatte ich oft Gelegenheit
, den letztverstorbenen Kaiser Alexander HL und seine
Familie zu sehen, und ich muss gestehen, dass mich damals
an den hohen Herrschaften nichts so sehr entzückt hat,
als gerade das reizende Familienleben, das sie daselbst in
ländlicher Zurückgezogenheit, schlicht und traut, wie andere
Sterbliche auch, führten. Was war natürlicher, als dass ich
für das Herrscherhaus, insonderheit aber für den Zaren,
den ich als den zärtlichsten Vater und ritterlichste!) Gatten
kennen lernte, eine grosse Verehrung fasste! — In den
späteren Jahren verlor ich den letzteren mehr und mehr
aus dem Auge; die schwierige Stellung, die gerade dieser
Fürst auf dem unruhvollen slavischen Throne zu behaupten
hatte, und die stete Lebensbedrohung, der er von feindlicher
Seite ausgesetzt war, verdunkelten oft den Glanz
dieses edlen Herrschers, der seine Geistesgaben und Herzenseigenschaften
nicht so entfalten durfte, wie er es vor Gott
und Reich gewollt und gethan hätte. —
So kam der Oktober des Jahres 1894 heran und brachte
dem russischen Reiche die tiefe Trauerkunde, dass sein
Kaiser und Landesvater schwer krank sei. Wie jedes echte
Unterthanenherz hatte natürlicherweise auch mich diese
Nachricht erschüttert und ich kann's nicht leugnen, dass
ich mich viel in Gedanken mit dem kranken Herrscher und
seiner schwergebeugten Gattin beschäftigte. Da hatte ich
am Morgen des 20. Oktober einen merkwürdigen Traum:
Ich befand mich in Petersburg am russischen Hofe mitten
unter den Cavalieren und Hofdamen, tief schwarz gekleidet
wie diese, und freute mich, wieder einmal unbemerkt das
geliebte Herrscherpaar beobachten zu dürfen. Zar und
Zarin standen neben einander mir gegenüber auf schwarz
verhangenem Thron, die Zarin über und über in Trauer-
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