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v. Seeland: Zur Frage von dem Wesen des Raumes, 499
Koexistenz zugleich die Koexistenz selber
vernichtet, oder sehr wesentlich ändert (z. B.
eine koroplizirte Bewegung wird schon zu etwas ganz
Anderem, sobald eine oder mehrere der dieselbe bedingenden
Kräfte ausfallen.) .. .
Das schlechtweg Ausgedehnte ist nur die Abstraktion
einer Summirung von örtlichen und Forraverhältnissen, ein
Ausgedehntes an sich, d. h. ohne Orts- und Formdifferenz
kommt in der Natur gar nicht vor. Wie aber verhalten sich
nun Ort und Form oder Gestalt zu einander? Unter „Gestalt"
versteht man zunächst das Allgemeine, welches die Worte
„gerade", „kruinm<\ „gewunden", „eckig", „rund", „platt",
„spitz" und dergl. deckt, ferner giebt es wissenschaftliche
(geometrische) Definitionen darüber, was „Linie", „Fläche",
„Körper" bedeuten und worin sich deren Grundformen
(Kreis, Viereck, Kugel, Cylinder u, s. w.) unterscheiden.
Wie aber ist eigentlich jenes Allgemeine oder Abstrakte,
welches wir „Gestalt" der Körper nennen, aufzufassen? . .
Was wir „Form" oder „Gestalt" nennen ist: a) die
Gesammtheit der Wechselwirkungen gewisser
Theilkräfte eines Ausgedehnten untereinander
und durch einander hindurchauf dieümgebung
und b) die Gesammtheit der Sonderwirkungen
gewisser anderer Theilkräfte, d. h. deren isolirte
(nicht durchdrungene) Wechselwirkung mit der
Umgebung des Ausgedehnten.*) Für uns bestehen
besagte Wirkungen zunächst in der Eigenartigkeit des
Eindrucks, den eine gegebene Gestalt auf unsere äusseren
Sinne ausübt.
Da kein Ausgedehntes ohne Kräfte und Wirkungen denkbar
, so ist es auch ohne Gestalt undenkbar.**) Unter den
Gestalten, in welchen sich das Zusammenwirken der Theilkräfte
am wenigsten und das Vereinzeltwirken am meisten
zeigt, wäre die eines dünnen und dabei geraden Fadens zu
nennen, den wir uns z. B, aus Wachs bestehend denken
*) Dass es sich hier um ganz reelle Dinge handelt, folgt schon
aus den oben angeführten Beispielen; so sahen wir, dass sich die
Wirkung der Schwerkraft, des Lichtes u. s w. je nach der Form des
Ausgedehnten, so oder so verhalte. Es wäre nicht schwer zu demon-
striren, dass überhaupt alles, was in einem Körper wirkt, je nach dessen
Form, gewisse Variationen in der Wirkung zeigt; richtiger mtisste es
übrigens heissen: die Form der Körper zeigt gewisse Variationen, je
nach dem Wie und Wieviel der Wechselwirkungen der in ihm wirkenden
Kräfte.
**) Nur dem All selbst können wir keinerlei Gestalt vindiciren,
da wir es uns bekanntlich weder endlich, noch unendlich vorzustellen
vermögen.
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