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Speck: Die Möglichkeit rationeller Theorien über Ahnungen. 561
fliehen befiehlt, so wird er wahrscheinlich unterschwellig
irgend ein Geräusch gehört haben, das den Sturz des
Hauses anzeigte; oder ein anderer gar, der einer seinem
normalen Bewusstsein noch unbekannten Gefahr entgegengeht
, eine geheimnissvolle Kraft fühlt, die ihn am Weiterschreiten
hindert, oder seine Mutter erscheinen sieht, die
ihn zurückdrängt und dadurch rettet: so wird auch er wahrscheinlich
im geeigneten Augenblicke durch irgend eine
unterbewusste Wahrnehmung Kenntniss von der Gefahr
erhalten haben, welche ihm drohte. Diese Formen, in denen
derartige Ahnungen auftreten, welche auf den Laien einen
so tiefen und geheimnissvollen Eindruck raachen, sind also
nichts weiter als automatische Bewegungen, Bewegungsstörungen
oder mtshr oder weniger symbolische Halluci-
nationen*), die regelmässig durch unterbewusste Wahrnehmungen
hervorgebracht sind. Solche Ahnungen, die nur
scheinbar supernormal sind, können absolut deutlich nur
bei denen zu Stande kommen, deren Persönlichkeit einer
tiefen Spaltung fähig ist, und die gerade dadurch nicht nur
unterbewusst ein einfaches Bild in sich aufnehmen können,
sondern auch die umfassendsten Kenntnisse sich anzueignen
im Stande sind.
Nichts ist leichter, als dass ein solcher Mensch in einem
Augenblicke von Ekstase einen Brief erhält, liest und vernichtet
, der genaue und ins Einzelne gehende Angaben für
eine Reihe Handlungen enthält, die ein anderer vollziehen
soll. Ist er wieder in seinem gewöhnlichen Zustande, so
weiss er nicht das mindeste mehr davon, ja nicht einmal,
dass er den Brief empfangen hat; aber der Inhalt des
Briefes, im Unterbewusstsein aufgespeichert, könnte von
dem Augenblicke an durch die Vermittelung von Träumen,
Visionen im wachen Zustande, automatische Schrift u. s. w.
in seinem ganzen Umfang auftreten und wiedergegeben
werden, und solche Kundgebungen des Unterbewusstseins,
die nach und nach in Erfüllung gehen, könnten den Anschein
wirklicher Ahnungen haben, besonders, wenn man
nie erfährt, dass ein solcher Brief geschrieben wurde. Und
selbst wenn man es erführe, könnte ein oberflächlicher Beobachter
auf Grund der Glaubwürdigkeit der betreffenden
Person geneigt sein, anzunehmen, dass der Brief nicht an
seinen Bestimmungsort gelangt sei, und dass, wenn auch
kein wirklicher Fall von Ahnung vorläge, es sich wenigstens
um eine auf supernormaiem Wege erfolgte Benachrichtigung
handle, um einen Irrthum der Post wieder gut zu machen.
*) Siehe Rivista di Studi Psychioi 1895, S. 349.
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