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636 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 11. Heft. (November 1899,)
ein physisches Wesen; Individualität ist aber nur die
metaphysische Wesenheit des Daseins, und ihre Entwicklung
ist nur ein metaphysischer Vorgang". — Diese Anführungen
mögen genügen, um Hübbe-Schleiden's Werk, eine grossartige
Schöpfung, erneut zu gewissenhaftem Studium zu
empfehlen. Möge aber nur der Reife mit diesem Studium
sich befassen. Ihm allein wird dasselbe hoher Genuss, vorzügliche
Anregung und ein starker Quell der Erkenntniss
sein. Eine Analyse des Buches Hesse sich nicht schreiben;
wohl aber kann und wird das Werk noch eine ganze
Litteratur hervorbringen. —
II
Jedes Individuum hat seine eigene Welt-Anschauung,
und zwar darum, weil es ein Individuum ist. Jedes Wesen
hat seinen besonderen Standpunkt und blickt von diesem
•aus, einerlei wie sehr oder wie wenig erhaben derselbe auch
sein möge, in das Leben rings umher. Diese Ausblicke
leiten zu Folgerungen, deren Inhalt und Charakter vom
Inhalt und Charakter des Ausschauenden abhängt und von
der Höhe der Warte, auf welcher derselbe sich befindet.
Täglich tauchen neue Systeme der Betrachtung der
Natur empor. Jeder Urheber legt das Hauptgewicht auf
eine andere Kategorie, zum Thei) aus dem Grunde, da es
ihm bekannt ist, dass die bisherigen Kategorien nicht den
rothen Faden zu bilden vermochten. An jedem System ist
Wahrheit, an jedem Irrthum, oft genug in gleichmässiger
Aiisclung; keines beansprucht unbedingte Geltung. Was
heute überwunden ist, taucht morgen in neuem Gewände
aus den Fluthen empor und findet ebenso Anhänger wie
Gegner. Auch im besten Fall ist der menschliche Gesichtskreis
enge und sind die Voraussetzungen unserer Logik
mangelhaft. Darum ist kein System etwas anderes, als
Flickwerk, Halbheit, Armseligkeit. Doch, dessen ungeachtet
hat jedes System wieder seine gute Seite und bringt durch
diese Nutzen bei Erlangung der Wahrheit. Es wird also
jedes philosophische System zu prüfen sein, und jede Prüfung
wird wenigstens einen Gran Goldes enthüllen. Selbst die
Systeme der Wahnsinnigen bleiben nicht ganz ohne Nutzen.
Ein zu Lyon lebender Gelehrter, _P. C. Mevel, hat
in einem kürzlich in zweiter Auflage zu Lyon erschienenen
Werke: „Esquisse d'un Systöme de la nature
fonde sur la loi du hasard, suivi du sommaire
d'un essai sur la vie future consideree au point
de vue biologique et philosophique" die Ansicht
ausgesprochen, dass der Zufall es sei, auf welchen die aller-
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