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Reich: Kritische Lesefrüchte.
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grösste Zahl der Erscheinungen zurückgeführt werden müsse,
weil man in der grossen Menge der Ursachen nur einige
wenige zu ermitteln vermöge. — Nun, deshalb an den Zufall
appelliren, weil uns die erforderlichen Kräfte mangeln,
ist doch keineswegs berechtigt, sondern geradezu irrthümlich.
Wohin wir auch blicken mögen, wir begegnen niemals
und nirgends dem Zufall, sondern überall bestimmten notwendigen
Ursachen. Es ist also durchaus nicht geboten,
den Zufall in ein philosophisches System aufzunehmen.
Auch halte ich es nicht für passend, die Gesammtheit der
uns unbekannten Ursachen mit dem Namen des Zufalls zu
belegen. Hiervon abgesehen, sind die Entwicklungen
Revefs zum Theil begründet und nicht unbeachtenswerth,
zum Theil aber sehr unklar [? Red.]. Zunächst unterscheidet
derselbe die sichtbare Welt von der unsichtbaren. Sodann
wendet er seine Aufmerksamkeit der Freiheit zu, welche
für ihu eine maralische ist und eine physiologische. Erstere
ist ihm gleichbedeutend mit dem freien Willen. Letztere
fasst der Autor in sehr beschränktem Sinne auf, wenn er
ausspricht: „Unter physiologischer Freiheit versteht man
den unbekannten Mechanismus der Ursachen gewisser durch
den Menschen geoffenbarter Erschein un gen." In den
folgenden Kapiteln ist mancher gute Gedanke in Gebirgen
von Ballast. Die Atomlehre des Autors wird mit Kritik
zu lesen sein. Was jedoch mehr Aufmerksamkeit verdient,
ist der zweite Theil des Buches, welcher von dem zukünftigen
Leben handelt. Es wird gut sein, hierauf einiges
Gewicht zu legen, aber den Weizen von der Spreu überall
zu sondern und von den sanguinischen Hoffnungen des
Autors, bezüglich Möglichkeit der Lösung der letzten
Fragen, sich nicht hinreissen zu lassen.*) —
Ueber Zufälligkeit oder Nichtzufälligkeit der Naturgesetze
versucht uns auch noch ein anderes Werk eines
französischen Denkers aufzuklären.
*) Es scheint dem Herrn Verf. nicht bekannt zu sein, dass das
erwähnte Buch ReveVs, welcher den Zufall als den „unbekannten^*
Mechanismus der Ursachen gewisser festgestellter Erscheinungen4*
definirt, so dass also die ganze Kontroverse über obigen Begriff, wie
so häutig in der Philosophie, auf einen Wortstreit hinausläuft, schon
vor Jahren auf Veranlassung des Unterzeichneten in deutscher Ueber-
setzung von Britz Beilgenhauer unter dem Titel: „P. C. Eevet's Entwurf
eines auf das Gesetz des Zufalls gegründeten Systems der Natur mit
nachfolgender kurzer Abhandlung über das zukünftige Leben. Mit
einem Anhang von Dr. F. Mater, Prof. a. D.*4, sowie auch dessen
Ergänzung: „Das künftige Leben mit nachfolgenden Bemerkungen über
die Träume und über die Erscheinungen (Theorien und Thatsachen)"
im Verlag von Max Spohr in Leipzig erschienen ist.
Der Schriftleiter,
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