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048 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 11. Heft. (November 1899.)
ereignet. Die Kranke war von Haus aus abnorm veranlagt,
sie bot das Bild einer schweren Hysterie. Unter den Symptomen
stellte sieli auch eine Zeit lang ein doppeltes ßewusstsein
ein, dessen wesentlichen Inhalt eine Verlobungsgeschichte
bildete. Die Patientin fingirte eine Verlobung mit einem
Rechtsanwalt, der in Nizza leben sollte; sie schrieb zärtliche
Briefe an ihn und sandte dann an sich selbst Liebesbriefe
von dem erträumten Bräutigam, die sie mit verstellter
männlicher Handschrift schrieb. Ebenso schickte sie sich
Blumen, uud sie führte die Täuschung auch ihren Verwandten
gegenüber durch. Die hierbei nothwendigen Lügen
trugen durchweg einen pathologischen Charakter. Ein
hysterischer Dämmerzustand, in dem die Kranke mit der
Polizei in Conflict kam, führte zu ihrer Aufnahme in die
psychiatrische Klinik. Es gelang dort, durch eine wesentlich
diätetische und pädagogische, nicht hypnotische Behandlung
eine entschiedene Belebung ihrer Willensenergie und damit
eine andauernde Besserung des Leidens herbeizuführen, so
dass die in Beginn der Zwanziger stehende junge Dame
ihren Beruf als Erzieherin erfüllen kann.
c) Verifizirte Fernwirkung. „Einen eigentümlichen
Fall von Ahnung bei einem Eisenbahnunglück erzählte mir
im Juni d. J. eine unbedingt zuverlässige nahe Verwandte
Marie F., die übrigens den übersinnlichen Prägen sehr
skeptisch gegenübersteht. Wir sprachen in Br. über Vorahnungen
und Gedankenübertragung. Als ich bemerkte,
dass mir (der Schreiberin des Briefes) persönlich ein solcher
Fall noch nicht vorgekommen sei, sagte sie mir, ihr Vater
sei im vorigen Winter, ich glaube November, verreist gewesen
und habe auf den folgenden Tag aeine Rückkunft angezeigt
gehabt. Plötzlich Nachts, einige Minuten nach 2 Uhr, wacht
die betreffende Dame an heftigem Herzklopfen auf, das
sich nachgerade zu einem so grossen Angstgefühl entwickelt,
dass sie niederkniet, um zu beten. Tags darauf erhielt sie
ein Telegramm, ihr Vater komme nicht um 10 Uhr Vormittags
, sondern erst Nachmittags 4 Uhr an. Es stellte
sich dann heraus, dass genau um dieselbe Zeit, wo sie jene
ihr unerklärliche Beklommenheit empfunden hatte, auf der
Strecke Pola-Wien, die der Vater reiste, der betreffende
Zug mit einem anderen zusammen gestossen war. Bei
diesem Unglück kamen mehrere Personen ums Leben und
eine ganze Anzahl wurde mehr oder weniger schwer verwundet
. Der Vater jener Dame, welche zugleich meine
intimste Pensionsfreundin ist, so dass ich für ihre Wahrhaftigkeit
einstehen kann, hatte während des Pahrens in
jener Nacht geschlafen, war aber plötzlich aufgewacht und
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