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676 Psychische 8tudien. XXVL Jahrg. 12. Heft (Dezember 1899.)
wie Röm. 8,19: „Das ängstliche Harren der Kreatur wartet
auf die Offenbarung der Kinder Gottes" und Vers 18: „Ich
halte dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht
werth sind, die an uns soll geoffenbaret werden." Schopenhauer
meint zwar, dass nur der Sündenfall im Alten Testamente
eine pessimistische Annahme mache, bleibe aber unbenützt,
stehe da wie ein hors d'oeuvre, bis das Christenthum ihn, als
seinen allein passenden Anknüpfungspunkt, wieder aufnehme.
Also rein transscendental ist der christliche Optimismus, in
den der propädeutische empirische Pessimismus ausmündet
Wann wird einmal von der Kirche klar erkannt werden,
dass das ganze Judenthum ein fremder, störender Blutstropfen
im christlichen Organismus ist, der den Süssteig
der christlichen Dogmatik für unseren germanischen Geschmack
bis zur üngeniessbarkeit versäuert, ja dass das
Christenthum sich geradezu kontradiktionär zu jenem
verhält, wie Jesus schon in der stereotypen Formel ausspricht
: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist —
Ich aber sage Euch! — und wie auch das vierte Evangelium
sich durchaus ablehnend gegen das Judentbum verhält. Der
äusserlichen Gegenüberstellung von Gott und Mensch mit
dem ebenso äusserlichen Bindegliede der Legalität setzt
Jesus diametral die innerste Wesenseinheit zwischen Mensch
und Gott gegenüber: „Das Eeich Gottes ist inwendig in
Euch' — es ist der Schatz im Acker —, das Heil bringt
kein alttestamentlicher, essenischer t wenn auch wieder von
Siephanus und Paulus gelehrter Engelmessias von einem
jenseitigen Himmel, sondern wird erschlossen von dem über
alles Fleisch ausgegossenen Geiste Gottes. Alle Seligpreisungen
knüpfen sich eigentlich an eine Zuständlichkeit
des Menschenherzens an, und die reinste Innerlichkeit ist
das Charakteristikum des Christenthums gegenüber allen
anderen Religionen. Deshalb darf es auch den Anspruch
erheben, die eine, wahre Religion zu sein, weil sie das
metaphysische Bedürfniss des Menschen im Menschen selbst,
sozusagen an eigenem Tische mit eigenem Brote sättigt,
aus eigenem Quell tränkt. Es wird aber immer ein verfehltes
Beginnen sein, mit „biblischen" Quellen ohne
Unterscheidung nachweisen zu wollen, was das Christeuthum
Jesu an sich sei, da nur die drei ersten Evangelien, und
auch diese nur cum grano salis, als Urkunden desselben
verwerthet werden können. Während das Alte Testament
nur eine religionsgeschichtliche Entwickelungs- und Vorstufe
zum Christenthum ist, ist im vierten Evangelium und den
epistolischen Schriften die einfache Heilspredigt Jesu schon
so verwischt, reflektirt und dogmatisirt, dass sie diese nicht
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