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680 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1899.)
Mund legte, über die zwei Texte Ps. 79, 6: „Schütte deinen
Grimm auf die Heiden" und über Matth. 22, 39: Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Lessing liebte wie
Jesus immer kalt oder heiss mehr als lau, und Entschiedenheit
des Charakters und Konsequenz des Standpunktes
waren Dinge, ohne die er sich einen Mann nicht denken
mochte. Meint Max Seiimg weiter, dass man sich der Unmöglichkeit
der Feindesliebe umsoweniger zu verschliessen
braucht, als Christus selbst einmal Luc. 19, 27 von der
Erwürgung seiner Peindesliebe spricht, so verweise ich
wiederum auf den exegetischen Kanon: die Schrift aus der
Schrift erklären.11 Dass dieselben Aussprüche Jesu, sei es
bei ganz verschiedener Veranlassung oder mit anderer Ort-
und Zeitbestimmung, nicht allein angeführt, sondern auch
redaktionell verschieden berichtet werden, wird Max Seiling
wissen und können wir den besten Nachweis davon führen
an der judenchristlich gefärbten, antipaulinischen Stelle
Matth. 7,22 im Vergleich zu der antijudaistischen,paulinischen
Anwendung in der Parallelstelle Luc. 13, 26. Nun findet
sich das Luc. 19, 12 ff. erzählte Gleichuiss von den Pfunden
einheitlich geschlossen Matth. 25, 14—30. Schon nach der
Mittheilung des Papias, dass Matthäus hebräisch die Herrenworte
zusammengestellt habe, sind wir berechtigt, diesem
die grössere Akribie und Zuverlässigkeit in der Berichterstattung
der Reden Jesu vor dem Lucas einzuräumen,
welcher erst lange nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben
hat und stark antijudaistisch für den paulinischen Universalismus
eintritt. Matthäus nun hat nicht die in den
Zusammenhang nicht gehörenden, fremdartig anmuthenden
Verse des Lucas 19, 12h, 14. 15h und 27, welche aber auf
dem Standpunkte des Pauliners Lucas zu begreifen sind als
Hinweis auf die Feindschaft der Juden gegen den Messias
und auf das über sie in der Zerstörung Jerusalems hereingebrochene
Gottesgericht. Die Worte Vers 14: „Wir wollen
nicht, dass er über uns herrsche" erinnern an die Scene
vor Pilatus und spiegeln sich wieder in den späteren Worten
Joh. 1, 11: „Er kam in sein Eigenthum und die Seinen
nahmen ihn nicht auf." Wenn übrigens Max Seiling das
„Problem" der christlichen Feindesliebe dadurch umgehen
will, dass er wieder nach Tolstoi unter den „Feinden14 die
fremden Völkerschaften vorstellt, so hätte auch hier schon
der allgemein profane wie neutestamentliche Sprachgebrauch
von ex&QÖg belehren können, dass dieses Wort = inimicus
immer nur den persönlichen Feind bezeichnet, während die
hostes, die Nationalfeinde, die Id-vy sind. Die Beziehung
von tx&Qog auf den Teufel ist unangefochten nur in 1. Petr.
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