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Gubalke: Moderne Christenthumsforscher.
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5, 8, da Matth. 13, 25, wenn nicht judaistisch tendenziös
den Paulus, den feindseligen Nachbar meint. Uebrigens sind
Tolstoi wie sein deutscher Pendant Egidy wohl prachtvolle
Willensmenschen und edle Kraftnaturen, welche symptomatisch
für unsere heutige gährende Sturm- und Drangperiode
sind, haben aber mehr zu popularisirender Verflachung
als zur Klärung und Vertiefung der Erkenntniss dessen,
was zur Zeit zu thun noth ist, beigetragen. Gross und
bedeutungsvoll sind sie als Nivelleure. Luther würde sie
unter die Schwarmgeister rangiren. Sie haben beide nichts
gelernt und zu viel vergessen, d. h. die geschichtliche Entwicklung
unberücksichtigt gelassen, vermaassen sich aber,
ohne gründliche Vorkenntniss über Alles sprechen und
urtheilen zu dürfen.
Ehelosigkeit. Wir hören die von Max Seiling
citirten, anscheinend von Mainländer zusammengestellten
Bibelstellen ab, Matth. 19, 11—12. Die beliebte Exegese
dieser Stelle ist zunächst um deswillen zu beanstanden, weil „
dieselbe aus dem Zusammenhange, welcher schon mit Vers 3
beginnt, herausgerissen ist. Da lesen wir, dass Jesus im
Gegentheil darauf hinweist, dass Gott durch die geschlechtliche
Zweitheilung des Menschengeschlechtes die Ehe vorgesehen
und verordnet hat, daher auch die folgende Warnung,
eine Ehe, die auf den Zug des Herzens, d. i. auf die Stimme
Gottes gefügt, geschlossen ist, nicht um menschlicher, äusserer
Interessen willen zu trennen. Da aber manche Ehe nicht
auf Herzensbund sich gründet, so ist um solcher Herzens-
härtigkeit willen vom Gesetze eine Scheidung zugelassen,
sobald Hurerei, ausserehelicher Beischlaf die legale Kindererzeugung
verhindert, diese Scheidung selbst aber auch erst
nach Beobachtung der gesetzlichen Vorschrift, um leichtfertigem
Auseinanderlaufen vorzubeugen. Nun kommt das
inhaltsschwere Wort Vers 12, vielleicht, wenn nicht
wahrscheinlich, um der Frage, warum Jesus selbst nicht
heirathe, vorzubeugen, welches Wort aber Jesus vorher
seines generellen, allgemeingültigen Charakters entkleidet,
indem er Vers 11 sagt: „Das Wort fasset nicht jedermann
(ist also auch nicht für Jedermann), sondern denen es
gegeben ist." Jesus scheert also nicht die Menschen über
einen Kamm, stellt als guter Pädagoge und scharfer
Menschenkenner nicht an Alle dieselben Anforderungen,
sondern hebt aus so grosser Menge eine Entwicklungsstufe
heraus, auf der die fleischliche Menschen z e u g u n g zurücktritt
vor dem Berufe geistiger Menschen Veredelung, vor
dem Berufe, Gottes-, Geistes-Kinder zu zeugen, eine Stufe
also, auf der die Geschlechtsliebe erstorben ist, die reine
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