http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1899/0701
Gubalke: Moderne Christenthumsforscher.
683
Wolf gang Kirchbach. Direkt die Unsterblichkeit zu lehren
hatte Jesus auch keine Veranlassung, da nur die Sadducäer,
das vornehme Epikuräerthum jener Zeit, dieselbe gegenüber
den den Auferstehungsglauben vertretenden Pharisäern, den
eifrigen Hütern des Volksglaubens, leugneten. W. Kirchbach
wie A. Matthes in seinem Urbilde Christi haben nur ihre
schülerhafte Exegese wie ihr grenzenloses psychisches
Ungeschick bewiesen, eine Persönlichkeit wie Jesus im Rahmen
und in der Sprache seiner Zeit richtig erfassen und beur-
theilen zu können. Es ist darum allzu nachsichtig von Max
Seiling geurtheilt, wenn er für die Worte Tolstoi9 s: „Nie hat
Jesus auch mit einem Worte die persönliche Auferstehung
und die Unsterblichkeit der Persönlichkeit jenseits des
Grabes gelehrt" das Epitheton ornans „kühn" wählt. Jesus
hat auch nicht gelehrt, dass der Mensch ein Säuge- und
Wirbelthier ist, folglich widerstreite diese naturwissenschaftliche
Erkenntniss dem Christenthum I Ich muss schärfer
urtheilen und verurtheiien: Solche Aussprüche nenne ich ein- *
fach täppisch, laienhaft im schlechtesten Wortsinne genommen
. „Si duo faciunt idem, non est idem", oder „Quod licet
Jovi, non licet bovi!" Tolstoi konnte unbeschadet seines hohen
verfehlten Berufes eines „Neuentdeckers des Christenthumes"
heirathen und Kinder zeugen, — ein Christus wird es so
wenig thun, wie ein Krieger seinen Kohl baut, ein Spinoza
Schleifer von Brillengläsern aus Beruf und Neigung gewesen
ist. — Auch einen von einer Kinderschar umgebenen Imanuel
Kant könnten wir uns nur schwer vorstellen. Denn wer hätte
nicht schon einmal in seinem Leben erfahren, dass schon
jeder Monoideismus, sei es der einer verzehrenden Sorge oder
Trauer, sei es einer intensiven geistigen Thätigkeit die
körperlichen Funktionen herabstimmt, Essen, Trinken, ja
Schlafen vergessen macht, den Geschlechtstrieb vollständig
zurückdrängt.
Anlässlich zu 1, Cor. 7 weise ich zunächst auf Vers 6:
„Solches sage ich nicht auf Herrengebot, sondern aus Ver-
gunst" xard övyyvco/iTjv, d. h. in dieser Sache bin ich gegen
Andere nachsichtig, befehle ich nicht, trage ich keine Lehre
vor. Vers 7 sagt Paulus ausdrücklich weiter: „Zwar hätte
ich es gern, wenn alle Menschen wären wie ich, ehelos, aber
ein jeglicher hat seine eigene Gabe von Gott, der eine so,
der andere so." Vers 9: „Es ist besser freien, denn Brunst
leiden", also wer Brunst leidet, der freie. Somit, da das
Menschengeschlecht wohl zu 999 pro Tausend und mehr
noch geschlechtliche Triebe besitzt, so von Gott veranlagt
ist, so ist auch die Befriedigung des Geschlechtstriebes eine
gottgewollte, da sonst das von ihm geschaffene Menschenpaar
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1899/0701