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684 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1899.)
nicht geschlechtlich differenzirt worden, jedenfalls aber sofort
zum Aussterben verurtheilt gewesen wäre!! Credat Judaeus
Apella! Wer möchte auch nicht bei des Apostels Worten
Vers 38: „Heirathen ist gut, nicht heirathen ist besser" als
einer allgemeingültigen Regel an das italienische von Georg
Herwegh übersetzte Sprüchwort denken: „Das Bessere ist
oft des Guten Feind*', zumal Paulus Vers 35 ausdrücklich
betont, dass aus seiner ganz persönlichen Ansicht kein Strick
zu drehen sei, sondern er spreche nur für ungestörtes Aushalten
bei dem Herrn. Auch ist niemals ausser Acht zu
lassen, dass die damalige Christengemeinde in steter Erwartung
der Wiederkunft Christi lebte, das Ende dieses
noch lieirathsfreudigen alcov bevorstehend glaubte, sich in
einer alles Weltliche und Fleischliche zurückdrängenden und
ausschliessenden Vorbereitung auf das 1000jährige Reich
Christi befand. Singt denn nicht auch unser Dichter:
„Auf, auf in blanken Waffen, mein Geist, und werde frei,
Es giebt noch mehr zu schaffen als einen Liebesmai.44
Wie aber thatsächlich trotz des asketischen Eiferers
und Epileptikers Paulus die christliche Urgemeinde gehandelt
und er selbst gedacht hat, theilt er uns in demselben Briefe
zwei Kapitel weiter unten 9, 5 mit: „Haben wir nicht die
Macht (Erlaubniss, Befugniss), eine (christliche) Schwester als
Ehefrau mitherumzuführen, wie die übrigen Apostel auch
und die Brüder des Herrn und Petrus?" Und das sollten
die Apostel gethan, das sollte selbst Paulus als von Christus
erlaubt gehalten haben, wenn Christus die Ehelosigkeit
gelehrt, also als für Alle geboten gehalten hätte? Näher
dürfte wohl die Annahme liegen, dass auch heute Jesus zu
Tolstoi und Genossen, wie damals Matth. 22, 29 bei demselben
Anlass, sagen würde: „Ihr irret und wisset die Schrift nicht,
noch die Kraft Gottes." Ihnen würde wohl anstehen, wie
der Kämmerer aus Mohrenland dem Philippus auf die Frage:
„Verstehest du auch, was du liesest?" (Act. 8, 31, 32) zu
antworten: „Wie kann ich, so mich nicht Jemand anleitet?11
Angesichts dieser vorgeführten die Ehe, bez. die Ehelosigkeit
betreffenden Schriftstellen hat Martin Luther sich als
ein rechter „Doctor der Heiligen Schrift" gerade dadurch
bewiesen, dass er geheirathet hat, weil eben seine stark
sinnliche Natur, etwa wie die eines leicht entzündlichen
Petrus, es verlangte. Was zudem sein freies Wort „Will die
Frau nicht, komm' die Magd" anlangt, so spricht sich in
diesem scharf pointirten, zugespitzten Kampfesworte die
Reaktion eines gesunden Empfindens gegen die zudiktirte,
darum unnatürliche und heuchlerische Ehelosigkeit des
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