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698 Psychische Studien. XXVI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1899.)
Tischgesellschaft zum Besten geben wollte. Seine grosse
Erscheinung ist ungemein fesselnd. Seine ein wenig zu
bleichen Züge sind ernst und unbedingt würdevoll, dabei
anziehend und, wenn man will, auch mild. Das schwarze
Auge hat den durchdringenden Adlerblick, während der, trotz
der fünfzig Jahre, lange schwarze Vollbart, dem Gesicht
eine Aehnlichkeit mit dem Michel-Angelf'sehen „Moses" verleiht
. Also sein Porträt verräth nur zu sehr den geborenen
Juristen, und in der That: das ist er auch voll und ganz.
Feind jeder Schmeichelei und Heuchelei nach oben wie
nach unten, liebt er es nicht mit Phrasen zu imponiren,
sondern argumentirt in scharfsinnigster Weise und versöhnt,
wo eben eine Versöhnung möglich ist. So sind die wenigsten
Juristen von heutzutage. Die meisten sind aufgeblasene
Charlatane und Aktenschreiber — grattes-papiers, wie man
sie anderwärts treffend bezeichnet, —
...„Noch bin ich hier zu unbekannt, als dass Sie
wissen könnten", so begann er, ,,wie sehr ich Musik- und
Kacteenliebhaber bin und daher auch für Liszt einiges
Verständniss zu haben annehmen darf, wie Sie es ja für
Beethoven zu haben scheinen. Allerdings ist es wahr, der
Künstler war das „enfant gäte" der feinen exklusiven Gesellschaft
und überall, wo er sich zeigte, machte er es quasi
zur Grundbedingung, dass man ihm Weihrauch streute. So
soll er einmal gar aufgehört haben zu spielen, als er die
wenigen Zuhörer gähnend bemerkte, indem er sagte: ^Verehrte
Herrschaften, wozu sollen wir einander länger langweilen
? Guten Abend!" Seien Sie versichert: die Liszf sehe
Musik ist nicht weniger Sphärenmusik, wie die Beelhoven'sehe
neunte Symphonie mit Chor, denn im Reiche der Geister
ist es schliesslich gleich, ob Musik gemacht wird, oder ob
man lyrische Dramen komponirt. Das echte Genie fasst
die Welt ganz anders auf, als wir praktisch denkende
Menschen, die wir für seine Welt eben gar nicht einmal
das geringste Verständniss haben. Und mit einem Blick auf
mich gewendet, sagte er weiter: es ist deshalb auch gar
nicht so unrichtig, die Genies einfach als Spiritisten oder
besser Spiritualisten zu bezeichnen, hingegen wir uns zu
den Kategorien der Sensualisten bescheiden müssten —
wenn ich so das Wort „Spiritualismus" richtig verstehe.
Heinrich Heine für den ich immer grosse Sympathien gehabt
habe, äussert sich in seinen Briefen über Philosophie und
Religion ganz in diesem Sinne, indem er Theorie und Praxis
mit Sensualismus und Spiritismus oder Materialismus und
Idealismus nicht nur parallelisirt, sondern einfach identificirt.
In der That stellen uns die Genies gewöhnlich selbst auf
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