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Didier: Phantasie und Wirklichkeit
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Phantasie und Wirklichkeit
Was ist Phantasie, was ist Wirklichkeit? Diese beiden
Fragen haben die scharfsinnigsten Denker alter und neuer
Zeit beschäftigt, ohne dabei zu irgend einem endgültigen
Resultate gekommen zu sein. „Schwärmereien, Grübeleien",
die keinen praktischen Zweck haben und mit denen sich
nur Solche befassen, die eben nichts Besseres anzufangen
wissen mit ihrer kostbaren Zeit, Ob man sich aber doch
nicht geirrt hat, indem man so abfällig, ja wegwerfend
urtheilte, oder richtiger verurtheilte? Wir wollen es prüfen.
Das Greifbare, das also keinen Zweifel über sein Vorhandensein
zulässt, genügt schon dem armseligen Menschen,
um sich einen Begriff von der Wirklichkeit zu machen, um
einen Beleg gegen die Einbildung aufzuweisen. Unrecht hat
er keineswegs, Der Teig, der sich soeben durch die Gluth
des Backofens gebräunt vor unseren Augen, ist unzweifelhaft
Brod. Das Haus drüben an der Strasse ist keine trügerische
Seifenblase, sondern ein festes, von Vielen bewohntes
Gebäude. Das Buch, dessen Inhalt unser Gemüth bewegt,
unsere Seele heftiger erschüttert, ist kein Luftgebilde,
sondern ein wirklicher Gegenstand, zu dessen Fertigstellung
zahlreiche Menschenhände erforderlich waren. Gewiss, das
alles könnte keine so langwierigen Erörterungen, könnte
keine so tiefen Zweifel über Phantasie und Wirklichkeit
hervorrufen, wenn nicht andere Momente hinzu kämen,
die auf dem dürftigen Sensualismus allerdings noch räthsel-
haftere Phänomene hinweisen.
Dem grossen griechischen Philosophen Aristoteles, dem
Stagiriten, werden die Worte in den Mund gelegt: „nihil est
in intelleetu, quod non est in sensu." Auf diesen Ausspruch
stützt sich die ganze neuere sensualistische Philosophie seit
John Locke, Berkeley bis herauf zu dem erfolgreichen L. Glahn.
Der Verfasser dieser Zeilen und mit ihm noch sehr viele
Andere zweifeln lebhaft an der Echtheit dieses philosophischen
Axioms, das seine Eingeweihten so gern als ein
sicheres Vertheidigungsmittei gegen die Anhänger der
platonischen Philosophie, des Idealismus, ins Feld führen.
Aber die moderne Wissenschaft — und zwar durchaus nicht
die gegnerische — hat das uralte Heiligthum der Sensualisten
und Materialisten ins Schwanken gebracht. Sie hat zur
Evidenz erwiesen, dass doch Etwas in der Seele (als geistiges
Prinzip) bewusst oder unbewusst vorhanden sein kann, wovon
die Sinne unberührt geblieben sind, und das ihnen als
etwas Fremdartiges gegenübersteht. Das ist das Problem,
an dessen definitiver Lösung die Vertreter des modernen
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