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Didier: Phantasie und Wirklichkeit
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und die Furcht vor der Naturgewalt hatte ihr zweifellos
die schreckliche Erscheinung suggerirt und nicht blos
ihren Gesichts-, sondern auch ihren Tastsinn getäuscht.
Das Zusammenwirken mehrerer gleich dunklen Kräfte
hatte bei dem Mädchen einen unauslöschlichen Eindruck
hinterlassen und so tauchte denn allnächtlich dasselbe
Phantom von neuem mit immer heftigerer Gewalt gegen
sie auf. Und gerade der Umstand, dass das Mädchen
sichtlich abmagerte, lässt darauf schliessen, wie sehr ihr
gesammter Organismus unter dem Hirngespinst litt. Es
mussten Verdauungsstörungen in Folge eingetretener, unregelmässiger
Ernährung aufgetreten sein, wodurch sich im
Körper die sogenannten „Selbstgifte" bildeten, welche das
unglückliche Geschöpf in ihrem traumhaften Schlafe
je länger desto merklicher geplagt hatten. Die posthypnotischen
Erscheinungen ähneln der hier
angeführten aufs Haar. Der Sinn lässt sich vom
Intellekt (Bewuss tsein) täuschen. Und nur auf
diese Weise wird es erklärlich, wie zwei ungleiche Ursachen
gleiche Wirkungen hervorbringen können. Soweit gehen die
Deduktionen der exakten Forschung zurück, dass auch die
generatio aequivoca der Haeckel, Moleschott u. s. w. nicht
mehr ausserhalb dieser ihrer Denksphäre liegt. Wenigstens
glaubt der Verfasser*) ,,die Briefe eines unmodernen Naturforschers
", des Herrn Dr. Wagner (Berlin 1897, Gebr. Born-
traeger) in diesem Sinne verstanden zu haben. Allein stünde
er mit seiner Ansicht ohnehin nicht da; auch Dr. Gregor
C. Wittig in Leipzig steht auf dem nämlichen Standpunkte,
und selbst ein Schopenhauer würde sich hiermit befreunden
können. Der Mathematiker hat sich mit denselben Faktoren
abzufinden. —
Weit ab von diesem Gebiete liegt dasjenige der Manie,
wobei es sich immer um Nerven defekte handelt, vorausgesetzt
dass nicht**) eine heftige Leidenschaft, die plötzlich ohne
vorausgegangene Erscheinungen aufgetaucht war, ein
Individuum zu der herrschenden Moral entgegenstehenden
Handlungen treibt, in Frage kommt. Der Mörder ist
zweifellos von einer Manie besessen; der Brandstifter, der oft
gar keinen persönlichen Vortheil aus seiner unseligen That
zieht (auch wenn sie nicht aufgedeckt wird), ist nicht minder
ein Maniak, dessen Nervensystem unbedingt Anomalien aufweisen
muss, die zwar nicht mit irgend welchen Arcana
geheilt zu werden vermögen, noch weniger aber durch lange
*) Didier, Einleitung zu: „Das Leben nach dem Tode.*4 Leipzig, Paul
**) Bulwery Eugen Ararn, London, 1879, n. A.
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