Freiburger historische Bestände - digital

62 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1900.)

in allem sind folgende Schlüsse bezüglich des Hangers auf
den Geist zu ziehen: Wenn die Enthaltung nicht allzulange
dauert und besonders wenn sie freiwillig und gewohnheits-
mässig erfolgt, so stellt sich eine angeregte Thätigkeit der
Geisteskräfte und vornehmlich der Einbildungskraft ein.
Wird diese Enthaltsamkeit verlängert, so findet eine Veränderung
in Charakter und Benehmen des Menschen statt,
die ihren Ausdruck in einer eigentümlichen Erregbarkeit
des Temperaments, ausserordentlicher Selbstsucht und sogar
in Grausamkeit findet. Gleichzeitig zeigen sich deutliche
geistige Störungen, theilweiser Verlust des Gedächtnisses,
der Willenskraft und Selbstbeherrschung und eine Neigung
zu plötzlichen und unwiderstehlichen Antrieben, die völlig
instinktiv auftreten. In ernsteren Fällen werden die Geistesstörungen
während der Nachtzeit besonders hochgradig; sie
äussern sich in Schlaflosigkeit, aufregenden Träumen, Alpdrücken
, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und gefährlichen
Impulsen. Stellen sich geistige Störungen auch schon
bei Tage ein, so deuten sie auf einen sehr ernsten Zustand
hin und können in hohem Masse gefährlich werden. Bei
ununterbrochener Dauer der Nahrungsentziehung kann dann
der Mensch unter dem Einflüsse fortgesetzter Hallucinationen
und unwiderstehlicher Antriebe zu Thaten hingerissen werden,
wie man sie in einzelnen Fällen mit Entsetzen kennen gelernt
hat. Lassignaräe zieht eine Parallele zwischen den Geisteszuständen
in Folge von Hunger und in Folge von Trunksucht
; bei beiden findet er dieselbe Störung der Intelligenz,
der Moral und des Benehmens.

Xiitteraturbericlit.

Berichterstatter für deutsche, englische, französische, italienische Litteratur
ist Dr. Erich Bohrt, Breslau, Kirchstrasse 27, für alle anderen Sprachen
Hofrat Dr. Wernekke, Weimar. Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung
für die in den Besprechungen ausgesprochenen Ansichten. Die
Berichterstatter vertreten nur die mit ihrem Namen gezeichneten Artikel.

Wir bitten, Zeitschriften und sonstige Litteratur nicht an die Redaktion
, sondern direkt an die Genannten zu schicken.

A. Bücherbesprechangen.

Psychologie für Lehrer und Erzieher. Von H. Baumgarten,
Seminardirektor in Zug. 1899.

Das Buch ist selbstverständlich vom dualistischen Standpunkte geschrieben
und sucht den Materialismus zu bekämpfen. Leider ist dieses
anerkennenswerthe Streben nicht von der Kenntniss der wahren wissenschaftlichen
Waffen, wie wir sie in den Schriften unserer bedeutendsten
Psychologen und Philosophen besitzen, begleitet. Für Baumgarten haben
Kanty Lolze und deren zahlreiche Schüler umsonst gelebt, da er noch an
den vorkantischen Sophismen, die aus der Einheit des Bewusstseins die
Unsterblichkeit der Seele beweisen wollen, festhält und dadurch das Gute,