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94 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. % Heft. (Februar 1900.)
wissenschaftlichen Gebieten bei dem Anrücken neuer That-
sachengruppen, die eine Verschiebung oder Erweiterung
der alten Theorien nothwendig machten, zu Tage getreten
sind. In solchem Falle ist immer zu beobachten gewesen,
dass man unter dem Eindruck des Neuen von der Wertlosigkeit
aller bis dahin als richtig erkannten Theorien
plötzlich überzeugt wurde und sich den extremsten Anschauungen
entgegengesetzter Eormulirung in die Arme
warf. Und genau so erging es mit der Theorie, welche
nach dem Auftreten und Bekanntwerden der spiritistischen
Vorgänge Platz griff. Unter der Impression der Thatsachen
entstanden besonders in Amerika Theorien, welche den
extremsten Spiritualismus vergangener Zeiten in den Schatten
zu stellen vermochten. Dazu war Amerika darum ein besonders
günstiger Boden, weil dort durch den gänzlichen
Mangel an wissenschaftlicher Tradition nicht entfernt solche
Hindernisse vorhanden waren, als in den europäischen
Ländern. Gerade an metaphysisch und philosophisch geschulten
Köpfen fehlt es in Amerika bis zum heutigen Tage
völlig, und produktive Arbeiten solcher Art gibt es dort
überhaupt nicht. Nur so lässt sich die starke Ausbreitung
einer spezifisch spiritistischen Hypothese mit materialistischen
Attitüden erklären, wie sie in Amerika seit den 50er Jahren
entstanden ist und sich, ohne im Mindesten eine Entwickelung
zu zeigen, gleichbleibend erhält. Wie oberflächlich aber
eine solche extrem spiritistische Theorie trotz ihrer grossen
äusserlichen Verbreitung bei den Gebildeten und Gelehrten
Amerika^ gesessen haben muss, bewies der Triumphzug,
den der bekannte materialistische Schriftsteller Louis Büchner
in den 70 er Jahren durch die Vereinigten Staaten hielt,
und in welchem derselbe mit der bekannten Kritiklosigkeit
der Amerikaner als der grösste deutsche Philosoph (I) gefeiert
wurde. Unter Anderem war es nämlich Büchner, wie er mir
seiner Zeit selbst versichert hat, nicht unwesentlich eben darum
zu thun gewesen, den spiritistischen Aberglauben bei diesem
hochbegabten Volk auszurotten, und so widmete er in fast
jedem seiner von Tausenden besuchten Vorträge dem „spiritistischen
Wahnsinn" ausführliche „Widerlegungen". Und
der äussere Erfolg war bei diesem leicht zu impressionirenden
Volke thatsächlich ein enormer; zu Tausenden wandten sich
gebildete Männer, welche bis dahin einer naiv extremen
spiritistischen Anschauung gehuldigt hatten, mit Abscheu
von derselben ab. Aber Büchner'* unverkennbarer äusserer
Erfolg brachte ihm eine um so nachhaltigere, innere Niederlage
. Ich brauche nur an seine Begegnung mit Hudson
Tuttle zu erinnern, welcher Vorgang ja den meisten Kennern
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