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102 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 2. Heft (Februar 1900.)
Menschen, dem Menschen in der Erscheinung, ein Mensch
an sich, ein transscendentaler, intelligibler Mensch stecken
muss, auf den mit derselben Nothwendigkeit geschlossen
werden muss, mit der wir etwa von der vorderen Flächen-
seite des Mondes auf einen Körper mit einer Rückansicht
schliessen. Der Materialismus, der naiver Weise glaubt,
dass die Sinnenwelt sich mit der wirklichen Welt ohne Rest
deckt, hätte schon um deswillen diese Anschauungsweise
eines Kindes überwinden müssen, weil er die Antwort auf
die Kardinalfrage schuldig bleibt, wie die Verwandlung
mechanischer Bewegung in Empfindung zu erklären ist, da
Empfindung, selbst in ihrer Abhängigkeit von dem physiologischen
Apparat, nur als Akt einer bewussten Wesenheit
denkbar ist, d. h. eines Subjekts, welches der phänomenalen,
aus Eiweisszellen aufgebauten Person zu Grunde liegt. Es
ist also nach der bekannten Kanfschen Formel für die
Erklärung des Menschen demnach einerlei Subjekt, was der
sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied
angehört, aber nicht eben dieselbe Person. Wenn ich nun
das in Natur- wie in Kunstprodukten gleicherweise beobachtete
Gesetz vom goldenen Schnitt auch auf den Menschen als
Naturprodukt anwende, so ergiebt sich, dass der Sinnenmensch
der kleinere Theil ist, welcher sich zum grösseren,
dem intelligiblen Menschen verhält, wie dieser zum ganzen
Menschen, Es kann nun die Frage aufgeworfen werden, ob
der unserer Wahrnehmung entzogene grössere Theil unseres
Wesens immer intelligibel, d. h. immer nur Postulat unseres
logischen Denkens, ideelle Konsequenz des .ffanf'schen
Kriticismu8 bleibt, oder ob es Zuständigkeiten des phäno*
menalen Menschen giebt, welche uns bisweilen sozusagen
hinter die Koulissen blicken lassen. Nun, obwohl wir normaler
Weise immer nur die Vorderseite des Mondes sehen, so
gelangt doch bisweilen ein Stück der Rückseite zu unserer
Wahrnehmung und zwar dann, wenn Librationen eintreten,
d. h. in Folge der Excentricität des Mondes Achsenschwankungen
, welche bald die rechte, bald die linke Kante
uns nähern und ein dahinter liegendes Stück sichtbar werden
lassen. Einer ähnlichen Alteration der menschlichen Erscheinung
begegnen wir in den anormalen, Medien genannten
Naturen, die uns eine Kenntniss der hinter der Erscheinung
verborgenen, okkulten transscendentalen Menschen vermitteln
— Hellenbach nennt sie Naturen von geringer phänomenaler
Befangenheit —, bei denen zeitweise die jenseitige Unterlage
unserer Erscheinung zu Tage tritt. Ich begegne hier gleich
dem flachen Einwurfe unserer Gegner, welche ßämmtliche
okkulte Phänomene, soweit sie dieselben nicht in bekannte
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