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Didier: Urchristenthum und Spiritualismus.
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bezeugt, wie durchdrungen Christus vom ßewusstsein seiner
seelischen Kräfte gewesen sein muss. Das berühmte Wort:
„Ach, könnt ihr nicht ein Stündchen mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet,"
spricht für die Ueberwindung der natürlichen Bedürfnisse
durch die Seelenkraft. Das Vertrauen zu dieser Kraft, oder
vielmehr die Quintessenz seines Ich erscheint in den Augen
der ihn umgebenden Alltagsmenschen mit vorwiegend sinnlichen
Bedürfnissen als Wunder. Die Teufelsaustreibungen
sind im Grunde nur Heilungen von Tobsucht, Irrsinn,
Blödsinn u. s. w. auf dem Wege der Suggestion. Ein
Idiot wird solche Heilungen niemals vollbringen können. Beim
Suggeriren und Hypnotisiren wird eine starke Subjektivität
vorausgesetzt. In diesem Sinne ist allerdings das Evangelium
des Glaubens das Erhabenste. Glaube ist zugleich der Gesammtinhalt
des Subjektivismus; denn das Bewusstsein seiner
seelischen Kräfte hebt den Menschen über das Niveau der
Erscheinungswelt.*) Er wird Mensch 1 Und wo das Bewusstsein
der psychischen Kräfte fehlt, zeigt sich der krankhafte
Idiotismus, oder auf der letzten Stufe der Kannibalismus.
Hoch oben im Norden finden wir ganze Idiotenvölker
(Samojeden), während das üppige Polynesien (Australneger)
am reichsten mit Anthropophagen bevölkert war und zum
Theil noch ist. Arabien, Aegypten, Indien u. s. w. haben
von jeher geistig hochentwickelte Menschen bewohnt. Die
Hindus haben beim Anblick der gewaltigen Bergmassen
mit ihren wunderbaren Zerklüftungen, verklärt durch die
Gluth einer schöneren Sonne und überzogen von einer
zauberhaften Vegetation, der Natur selbst das Bauen abgelauscht
. Die Aegypter haben als Erstlinge den Grundstein
zu dem gigantischen Monument der modernen Kultur gelegt,
während die Araber ihre Söhne in die Welt gesandt haben,
die Wunder Gottes zu predigen und die wilden Menschen
zur Nächstenliebe zu mahnen. Wenn wir heute nach Jahrtausenden
zurückblicken, so bewahrheitet sich das schöne
Wort unseres idealen Schiller: „Was erst, nachdem Jahrtausende
verflossen, die alternde Vernunft erfand, lag im
Symbol des Schönen und des Grossen voraus geoffenbart
dem kindischen Verstand !u — In der That, wir müssen bei
aller Anerkennung des technischen Fortschritts in unserer
Zeit doch eingestehen, dass die schöpferische Kraft des
Geistes im Vergleich mit Einst weit zurücksteht. Mag es
wie verletzender Hohn klingen, — es ist eine Wahrheit, was
Goethe in Bezug auf die moderne Welt sagt: „... bei deren
*) Leben des Dr. ph. K. Witte von seinem Vater. Halle 1836. '2 Bde.
(Wunderkind)! 3*
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