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416 Psychische Studien. XXVU. Jahr?. 2. Heft. (Februar 1900.)
Anblick uns der Geist entflieht!" Ueberall stossen wir auf
meisterhafte Technik und tadellose Vollkommenheiten in der
Ausarbeitung, allein nichts verräth den Geist, das also, was
einem Kunstwerke erst den Stempel des Unvergänglichen
aufdrückt. Das meiste was hervorgebracht wird, ist Nachahmung
, mitunter etwas feiner abgeschliffene Kopie. Nicht
mit Unrecht würde man daher von einem gewissen Idiotismus
unserer grossen Zeit reden; doch wer hätte den Muth dazu
— gegenüber einem Genie, wie z. B. Edison'?
Wer möchte es wagen, einen modernen Theologen mit
ellenlangen Titeln und glänzenden Orden, um seiner heiligen
Verdienste willen, als Idioten zu brandmarken? Selbst
wenn die Verdienste nur darin bestünden, aus der Lehre
des Welterlösers vom Stamme Juda einen kaum noch widerlegbaren
Fhilologismus (K. Marten, die Bibel) gemacht zu
haben ?! — Fürwahr, die modernen Geister sind unantastbar
geworden, denn sobald ihnen ein böser Feind naht, rufen
sie zahllose Paragraphen des Gesetzbuches zum Schutze an.
Ach, dass der Erlöser nicht in unserer Zeit hat geboren
werden müssen! Die heutigen Menschen sind so passionirt
für das Neue, wenn es ihnen nur einigermassen greifbare
Vortheile bietet! Deshalb fielen sie einst wie hungrige
Wölfe über den trockenen Materialismus (Büchner, Kraft
und Stoff) her, den sie freilich später ebenso bereitwillig
wieder gegen den saftigeren Naturalismus (Ibsen) aufgaben.
Ob es nun nicht einmal dahin kommen wird, den spukhaften
Spiritismus etwas herzlicher in die Arme zu schliessen? O,
warum nicht? Es fehlt nur noch die rechte Persönlichkeit,
die inn der aufgeklärten Menschheit von heute zum Präsent
macht. Und ich glaube, wir sind der Zeit nicht mehr allzu
fern, in welcher ein starker Subjektivismus {Wundt^
Herbert Spencer, Goblet d'Aloiella u. A.) als neues Evangelium
gepredigt werden wird. Die Nietzsche*'sehe Philosophie bringt
ihn uns bereits von der entgegengesetzten Seite her. Und die
Leute, die noch vor zehn und zwanzig Jahren die Nase rümpften,
wenn man es wagte mit ihnen über Spiritismus zu sprechen,
sind heute doch schon soweit mit ihm einig, dass sie
wenigstens heimlich spiritistische Schriften lesen, und auch
wohl gar hohe Entröes zahlen, um einmal ein Medium zu
sehen. Dann aber sind sie ganz Bewunderung und hingerissen
rufen sie ein über's andere Mal aus: Wie ist das
nur möglich?! Ueber die überraschenden wie überzeugenden
Vorführungen eines Jacques Inaudi*) zu lächeln, glauben sie,
*) Prof. Dr. 1?^&-Paris nennt ihn das grösste Weltwunder des
Jahrhunderts. (Aufgetreten in Leipzig, Winter 1896.)
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