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138 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 8. Heft. (März 1900.)
blieben war, in wenigen Tagen einer Lungenentzündung erlag
. Ihr Schlafzimmer stiess an das meiner Eltern, an
dieses letztere in rechtem Winkel das Schlafzimmer meiner
Schwester. In einer Februarnacht um fünf Uhr Morgens
— es herrschte schon Dämmerlicht in der Wohnung — erwachten
, ungewöhnlicher Weise und ohne sich einer Ursache
bewusst zu sein, fast gleichzeitig meine Eltern und meine
Schwester und begannen leise mit einander zu plaudern,
um die nebenan schlummernde alte Frau nicht zu stören;
die Verbindungsthüren der drei Stuben standen nämlich aus
irgend einem zufälligen Grunde offen. Kaum hatten die
Erwachten ein paar Worte gewechselt, als sie — alle drei —
ein scharfes, zischendes Sausen wie von einer Rakete aus
dem Schlafzimmer der Grossmutter sich nähern hörten, und,
indem sie sich erschrocken aufrichteten und der Thüröffnung
zuwandten, sahen sie, wieder alle drei in gleicher Weise,
einen Gegenstand von der Grösse eines kleineren Vogels,
kugeliger Gestalt und grauer Farbe, dicht vor den Augen
meines Vaters vorbei, dessen Bett mit dem Kopfende an
den Thürpfosten stiess, hereinsausen und gegen das gerade
gegenüber liegende Fenster schiessen, wo es die Scheiben
erklirren Hess und gleichsam verpuffte, während zwei Singvögel
, die dort schlafend in ihrem Käfig gesessen hatten,
in wilder Angst aufflatterten und dann noch lange nicht
mehr zur Ruhe kamen. Gleichzeitig war unser Teckel, der
zu Füssen meines Vaters bis dahin gleichfalls in ruhigem
Schlafe gelegen hatte, mit gesträubtem Nackenhaar aufgesprungen
und bellte wüthend gegen das Fenster. Die
Erscheinung war auch für Gesicht und Gehör so stark ausgeprägt
und so unheimlich, dass meine Eltern wie meine
Schwester sofort aufgeregt aus den Betten sprangen, Licht
machten und gemeinsam die ganze Umgebung des Fensters
nach dem räthselhaften Gegenstand durchsuchten. Sie konnten
aber keine Spur davon entdecken. Da hörte mein Vater
nebenan die Grossmutter sprechen; sie hatte nichts von der
Erscheinung bemerkt, war aber als Letzte nun gleichfalls
erwacht, und klagte zum ersten Mal, dass sie sich sehr
schlecht fühle und wohl nicht werde aufstehen können.
Noch an demselben Tag konstatirte der Arzt ihre schwere
Erkrankung, und nach dem Begräbniss erklärte mir mein
Vater, der nichts weniger als abergläubisch veranlagt und
allem Mysticismus abgeneigt war, sehr ernsthaft, er sei durch
jene, ihm unerklärliche Erscheinung auf den traurigen Ausgang
innerlich vorbereitet gewesen. —
Der zweite Fall spielte zehn Jahre später, vor dem Tode
meines Vaters, und entspricht in allem Wesentlichen ganz
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