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140 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 3. Heft (März 1900.)
der sich zersetzenden Körpersäfte spürte und mit
einem der ererbten Grundinstinkte des Lebewesens schaute.*)
Dass auch die gewiss rein materiell zu deutende Personal-
erkennung der Hunde auf grössere Entfernung stattfinden
kann, habe ich selbst wiederholt beobachtet, indem unsere
Teckel Bekannte, die uns in unserer im zweiten Stock gelegenen
Wohnung besuchen wollten, mit ganz individuell
charakteristischen Zeichen anmeldeten, wenn
jene erst unten auf der Strasse sich dem Hausthor näherten.
In einer ßeihe von Experimenten mit einer Somnambule,
die ich nach Belieben ergriffene Gegenstände durch mehrere
verschlossene Thüren hindurch erkennen Hess, ist es mir
zur Gewissheit geworden, dass es sich auch bei den geringeren
Graden des Hellsehens, oder, wie man wohl richtiger
sagen müsste, bei dem ganzen, die schliessliche Erkenntnis
liefernden vorbereitenden Prozess eines jeden
Hellsehens nicht etwa um ein ideelles, begriffliches
Ahnen, sondern um eine Art materiellen Tastens
mittelst eines alle grobstofflichen Hindernisse durchdringenden
und in die Perne wirksamen Allgemeingefühls
handelt, das die Fähigkeiten aller fünf Sinne verfeinert und
verschärft in sich vereinigt. Bei meinen Versuchen war
diese gleichsam belastende Feststellung der materiellen Einzelheiten
des Gegenstandes stets das Erste; dann erfolgte die
Schilderung besonderer seelischer Eindrücke, welche die Hellsehende
von ihm erhielt, und erst ganz zuletzt — oft überhaupt
nicht — kam es zur zusammenfassenden begrifflichen
Bezeichnung. Vielleicht ist es nicht zu gewagt, dieses Gesetz
des unvollkommenen menschlichen Hellsehens entwicklungsgeschichtlich
derart auf die Thierwelt anzuwenden
, dass dieser überhaupt nur das telepathische Allgemeinfühl
im materiellen Sinne ohne begriffliche Zusammenfassung
eigen ist Volle Klarheit wird aber freilich auch
hier erst auf Grund eines reicheren Erfahrungsmaterials zu
gewinnen sein.
*) Bekanntlich ist aus den Pestzeiten des dreissigj ährigen Krieges der
sicher auf das nämliche reinmatericlle Feingefühl zurückzuführende Volksglaube
überliefert, dass in Häusern, vor welchen die Hunde heulend sich
sammelten, ein Mensch an der Pest stürbe. An diesen Volksglauben erinnert
auch ein Vers in Heine's „Wallfahrt nach Kevlaar":
Die Mutter schaut' Alles im Traume,
Und hat noch mehr geschaut;
Sie erwachte aus dem Schlummer,
Die Hunde bellten so laut.
Da lag dahingestrecket
Ihr Sohn, und der war todt u. s. w.
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