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W. Bohn: Ein Fall von doppeltem Bewusstsein. 143
werden — in Fällen, in denen der Kranke behauptete, nur
mit einer Gehirnhälfte zu deliriren, — nichts, da das
Symptom der Doppelwahrnehmung bei ihnen gar nicht vorhanden
war." Ueberhaupt, meint Sander mit Recht, können
die Doppelvorstellungen nicht mit Doppelwahrnehmungen
erklärt werden, da es sich ja nicht um eine einzelne Wahrnehmung
, sondern um ganze Vorstellungsreihen handele.
Wichtig ist die Thatsache, dass diejenige Vorstellung, die
uns den Gedanken des Früher-Gescbehenseins erwecke, stets
dunkel sei und verschwinde, wenn wir beginnen, scharf zu
denken. Es liegt einfach eine Erinnerungstäuschung vor,
veranlasst durch eine ähnliche Situation des vergangenen
wirklichen oder des Traumlebens, die durch ihre Unklarheit
eine scheinbare Gleichheit vortäuscht,
Lässt uns nun die Hypothese der Doppelwahrnehmung
als Erklärung der scheinbaren Doppelvorstellung im Stich,
so sehen wir doch die Möglichkeit derselben von einer Reihe
hervorragender Forscher besonders Frankreichs auf Grund
gewisser Experimente behauptet werden. Dessoir hat darauf
seine geistvolle Theorie des „Doppel-Ich" aufgebaut, einer
zweifachen — bewussten und unbewussten — Seelenthätig-
keit; jedoch giebt er die Möglichkeit einer anderen Erklärung
der vorgelegten Thatsachen selbst unumwunden zu.
Es leiden nun wirklich die Versuche, durch die eine
gleichzeitige doppelte Seelenthätigkeit — und das bezieht
sich auf "Wahrnehmung, Vorstellung und logische Verbindung
— erwiesen werden sollte, an erheblichen Fehlern. Erstlich
sind ein Theil der Versuchspersonen Hysteriker, deren
Behauptungen man wohl nicht ohne weiteres als wissenschaftliches
Material hinnehmen darf; zweitens fehlt bei
den „normalen" Versuchspersonen eine eingehende Prüfung
ihres Geisteszustandes, ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität
u. s. w. Wenn eine solche Versuchsperson nach
langer Uebung imstande ist, gleichzeitig ein jedenfalls nicht
sehr anstrengendes und tiefes Gespräch in ihr Gedächtniss
aufzunehmen, und dabei eine schwierige Rechenaufgabe —
allerdings keine Differentialrechnung — zu lösen, so beweist
dies noch nichts. Soll eine solche immerhin verblüffende
Leistung wissenschaftlichen Werth haben, so muss doch
erst festgestellt werden, mit welcher Schnelligkeit von dem
Individuum einerseits eine Wahrnehmung gemacht, andererseits
ein* Aufgabe ausgeführt wird, und ob nicht eine
Verminderung der Geschwindigkeit eintritt, sobald eine
solche doppelte psychische Leistung verlangt wird. Dann
würde sich ja das Nebeneinander von selbst in ein Untereinander
d. h. Nacheinander der psychischen Thätigkeit auf-
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