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W. Bohn: Ein Fall von doppeltem Bewusstsein. 147
man ihm einmal eine Injektion machen wollte, bat er, dieselbe
doch Herrn Gabbadge zu Theil werden zu lassen.
Schon an dieser Stelle möchte ich auf die Rolle aufmerksam
machen, die gewisse, vielleicht auf nicht beobachteten
Störungen der Sensibilität beruhende hypochondrische
Symptome in vielen derartigen Fällen spielen. Wiedemeister
berichtet ja ganz ähnliche Beobachtungen, wo von den
Kranken die Behauptung, es sei nur eine Hälfte des Gehirns
erkrankt, ausgesprochen wurde. Bei einem Landwirthe führte
sogar eine einfache Indigestion eine Lähmung der rechten
Seite herbei, die in ihm den Erklärungswahn hervorrief, es
seien die rechte (gefühllose) und die linke Seite zwei ganz
verschiedene, mit einander in Widerstreit lebende Personen
— Herr und Diener. Jaffas Kranker, der auch eine gute
und eine schlechte Person in sich unterschied, versuchte
konsequenter Weise die letztere durch einen Selbstmordversuch
zu tödten.
In solchen Fällen sehen wir den Zerfall der Individualität
in nur zwei gesonderte psychische Systeme am weitesten vorgeschritten
. Und wenn wir sehen, dass eine durch eine Indigestion
hervorgerufene Sensibilitätsstörung diese Lösung
so vieler Associationen hervorbringen kann, dann wird uns
dieselbe Erscheinung bei Sterbenden nicht so sonderbar vorkommen
, wie dem Philosophen Schopenhauer, der einen
Bericht wiedergiebt, in welchem ein Sterbender den Arzt
darauf aufmerksam machte, dass sich zwei Personen in seinem
Bette befänden. Ich selbst kann aus der medizinischen Klinik
zu Breslau mich eines ähnlichen Falles besinnen. Auch mir
erklärte der Kranke, er fühle, dass „es" nunmehr zwei bei
ihm seien. Der Kranke litt an Oarcinom der Wirbelsäule
und der Nieren und starb am folgenden Tage.
Eine Spaltung in drei verschiedene Persönlichkeiten,
deren Organ aber immer der Kranke selbst war, berichtet
Rosse. Die Eigentümlichkeit dieser Fälle liegt im Gegensatz
zu den Fällen des Wechsels der Persönlichkeit darin,
dass zwar durch Lösung grosser Mengen von Associations-
bahnen die Verbindung gewisser psychischer Funktionsgruppen
unter sich verloren ist, dagegen die Verbindung
mit den sensorischen, vor allem mit den motorischen Elementen
der Grosshirnrinde erhalten blieb, und die beiden
Reihen somit gleichzeitig zum äusseren Ausdruck und dadurch
auch zur gegenseitigen Wahrnehmung gelangen können,
was eben bei dem Wechsel der Persönlichkeit, d. h. dem
temporären Ausfall ganzer Komplexe von Vorstellungen und
Erinnerungen nicht der Fall ist. (Portsetzung folgt.)
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