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210 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 4. Heft. (April 1900.)
Das Symptom der Unterbrechung der Persönlichkeit
finden wir in gewissen Dämmerzuständen der Epilepsie wieder.
Dieselben bestehen (nach Siemerling) bekanntlich darin, dass
der Erkrankte sich für Stunden bis Monate in einem Ideenkreise
bewegt, der völlig losgelöst vom normalen Zustande
erscheint, übrigens sehr eng und begrenzt ist — es fehlen
eben Gedankenkomplexe —, und auf Grund dessen Handlungen
ausgeführt werden, die zu dem sonstigen Charakter
gar nicht passen. Osborn erzählt von einem Kranken, der
während eines Dämmerzustandes in ein Nachbarland reist,
dort einen Kaufvertrag abschliesst, dann au/ den Verkäufer
einen Mordanfall macht und schliesslich mit vollkommener
Amnesie erwacht.
Siemerling berichtet den merkwürdigen Fall eines Studenten,
in dessen Charakter plötzlich eine vollkommene Veränderung
auftrat. Aus einem guten und soliden jungen Manne wird
plötzlich ein rücksichtsloser, ausschweifender Mensch, der
ins Gefängniss kommt, seine Eltern bedroht, und dabei ganz
lückenhafte Erinnerungen zeigt, bis nach Operation einer
Kopfnarbe die Rückkehr zum früheren Zustande des Charakters
herbeigeführt wird.
Das Symptom der Unterbrechung der Persönlichkeit
kann natürlich im Verlaufe einer Geisteskrankheit auch
mehrfach auftreten. Ein Psychisch-mindenverthiger, den Iltis
beobachtete, ergriff in seinen oft monatelang andauernden
epileptischen Dämmerzuständen bald dieses, bald jenes Fach,
um schliesslich immer wieder mit grossen Gedächtnisslücken
aufzuwachen.
In der von Siemerling berichteten Beobachtung, übrigens
auch bei Osborn, mehr noch in den später zu schildernden
Fällen mit alternirendem ßewusstsein, könnte auffallen, dass
der Charakter selten besser wird. Dass bei der Abspaltung
gewisser Vorstellungsreihen meistens die weniger guten
Eigenschaften in den Vordergrund treten, ist aber nicht so
wunderbar. Es fallen — ähnlich wie bei der Manie — zuerst
diejenigen Vorstellungsgruppen aus, deren Ueberwerthigkeit
zwar eine soziale Notwendigkeit ist und durch die Erziehung
festgelegt sein soll, die aber als altruistisch dem natürlichen
egoistischen Bedürfniss zur Bejahung der Individualität widersprechen
. Es sind in den epileptischen Dämmerzuständen
Egoismus und Reizbarkeit neben der durch Einengung des
Ideenkreises bedingten Phrasenhaftigkeit des Ausdruckes
und dem Schwachsinn, nach Sehr enck-Notzing, oft beobachtet.
Dazu kommt Monotonie der Sprache, Ungelenkigkeit der
Bewegungen, Starrheit des Ausdrucks u. s. w. Bei hysterischen
Personen nimmt die Aenderung des Charakters auch den
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