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226 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 4. Heft. (April 1900.)
thum ist die in das klare Bewusstsein eingetretene sittliche
E n t w i c k e 1 u n g: m <! i vidualistiseher Darwinismus mit sittlicher
Tendenz; und ein wahrer Christ ist demnach gleicherweise
derjenige, bei welchem diese Erkenntniss eben erst zum
Durchbruche gekommen ist, welcher in die erste Entwickelungs-
phase eingetreten ist, wie der Christus, welcher die ganze
Entwicklung schon durchlaufen hat und von dem die Worte
gelten 2. Tim. 4, 7: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft,
ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten."
— Am bedauerlichsten, weil von aktueller Bedeutung, ist
bei Herrn S. das vollständige Verkennen Martin Luther'*,
dieses Genius des deutschen Volkes. Was zunächst dessen
Brandmarkung der Jungfräulichkeit als „schändliches Werk"
anlangt, so muss ich dieses flerausreissen von Aussprüchen
aus dem Zusammenhange ernstlich zurückweisen, eine
Methode, die ja auch, wie ich nachgewiesen, bei Citirung
von Bibelstellen beliebt wird. Ich kann auf die betreffende
Stelle m Luther's Werken nicht sofort kommen, behaupte
aber hiermit und erwarte von dem Herrn Citator den
Gegenbeweis, dass Luther diesen derben Ausspruch nur im
scharten Gegensatze gegen das opus operatum, gegen die
Verdienstlich keit der heidnibchen und römischen
Jungfräulichkeit gethan hat; denn solche vermeintlich verdienstliche
Virginität schändet allerdings und hemmt das
geistige Bingen nach der „Glaubensgerechtigkeit4*, d. i.,
modern gesprochen, die subjektive Wahrhaftigkeit und
Ausschliesslichkeit im Erfassen des sittlichen Vollkommenheitsideales
, das der Mensch in dem geschichtlichen Jesus
schaut. Also, auch wer nur erst von ferne steht, wie der
Zöllner, und zu diesem Ideal im Bewusstsein eigener Schuld
seine Augen nicht aufzuheben wagt, dieser, Herr &, ist ein
wahrer Christ, mag auch, wie schon bemerkt, seine sittliche
Qualität sich noch in den Anfangsstadien der Entwicklung
befinden. — Was weiter den „sittlichen Makel" anlangt,
mit dem Luther wegen seiner Zustimmung zu der Doppelehe
des Landgrafen Philipp von Hessen behaftet sein soll, so
ist mir zunächst ganz neu, dass im Intellekt die entscheidende
Instanz für die Sittlichkeit des Subjekts zu finden sein soll.
Hierüber entscheidet nur die Handlungsweise des Menschen
— wohl bemerkt nicht die einzelnen Handlungen, nicht die
Werke als solche —, und ich werde es auch weiter mit
Lichtenberg halten, wenn er schreibt: „Es ist eine goldene
Begel, dass man die Menschen nicht nach ihren Meinungen
beurtheileu müsse, sondern nach dem, was diese Meinungen
aus ihnen machen": avis au lecteur, Herr Hofrath! Kennt
denn Herr S. nicht die Geschichte und Motivirung jenes
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