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290 Psychische Studien. XXVil. Jahrg 5. Heft. (Mai 1900.)
zu illustriren, mit welcher der menschliche Geist sich
manchmal Beweisgründen gegenüber versehliesst, welche die
Vernunft nur acceptiren kann.
Allerdings kann Ueberzeugung in diesen Fällen nicht
wie bei einer geometrischen Demonstration erlangt werden,
— und es kommt häufig genug vor, dass sogar die Beweiskraft
einer geometrischen Demonstration von manchen
angezweifelt wird. Es ist bekannt, dass Thiers in seinen
späteren Jahren noch einmal anfing, sich mit Mathematik
zu beschäftigen. Eines Tages bewies ihm sein ausgezeichneter
Lehrer streng mathematisch, dass ein schräger Schnitt durch
einen Kegel, in welcher Richtung er auch geführt werde,
stets eine reguläre Ellipse ergäbe. Aber dies leuchtete Thiers
nicht ein. „Es ist einfach unmöglich", sagte er, „an der
Basis des Kegels kann nicht dieselbe Ellipse, wie an der
Spitze entstehen.44 Um ihn zu überzeugen, musste sein Lehrer
einen Zuckerhut holen lassen, an diesem den schrägen Schnitt
ausführen und Thiers die resultirende Ellipse zeigen. Erst
durch das Experiment sah also Thiers die Richtigkeit
der Behauptung seines Lehrers ein, nachdem ihm dessen
theoretische Demonstration unverständlich geblieben war.
Wir alle sträuben uns, Thatsachen anzuerkennen, welche
nicht alltäglich sind. Das Ausserordentliche erscheint uns
unglaublich, und wie sehr dies der Fall ist, kann ich kaum
besser zeigen, als durch meine eigene, lange und fast
unüberwindliche Abneigung den sogenannten okkulten
Phänomenen gegenüber.
Zunächst müssen wir das Wort „okkult" durchaus vermeiden
, oder wenigstens es seinem eigentlichen Sinne nach
gebrauchen. Okkult heisst unbekannt. Alchemie, ehe sie
zur Chemie wurdet Astrologie, bevor* die Astronomie aus
ihr entstanden war, Medizin, ehe sie sich zur Bakteriologie
entwickelt hatte, waren nichts anderes als okkulte Wissenschaften
. Auch würde es nicht schwer fallen, zu beweisen,
dass sogar die klassischen Wissenschaften, auf welche wir
so stolz sind, noch nicht sehr weit von dem okkulten Stadium
entfernt sind. Es können uns gewisse Phänomene bekannt
sein, und sogar die Gesetze, welchen ihr Erscheinen unterworfen
ist, aber trotzdem ist es möglich, dass uns das einzelne
Phänomen unklar bleibt. Wenn man sagt, dass der Stein
zur Erde fällt, weil er der Anziehung gehorcht, welche je
nach der Masse und umgekehrt nach dem Quadrat der
Entfernung variirt, so heisst das noch nicht, den Fall des
Steines verstehen. Obgleich dieses Phänomen uns ganz
vertraut ist, können wir es uns doch nicht in allen seinen
Elementen erklären. Nicht ein einziges Phänomen, wiederhole
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