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300 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1900.)
lehrte und Philosophen wissen, wie dies einer der Meister
auf dem Gebiete der modernen Physiologie und Psychologie
, Charles Richet, im Juli 1899 in seiner Ansprache [s. o.]
über „die Bedingungen der Gewissheit" vor der „Society for
psychical researeh" zu konstatieren sich nicht gescheut hat,
über dieses für den Menseben interessanteste Problem heute
in der Hauptsache nicht mehr, als zur Zeit von Newton —
und kein Gelehrter, kein Denker aus den Reihen der
illustren Gesellschaft, vor welcher der heutige Professor
diese Rede hielt, wagte dagegen Einspruch zu erheben.
Daher diese Ueberfüllung mit einander widersprechenden
Theorien, welche den Studierenden schliesslich jenem überall
beklagten Skeptizismus überliefert, der uns einen Nachwuchs
vorbereitet, bei dem das Gehirn das Herz töten, wo die
rücksichtsloseste Selbstsucht König sein und wo der „struggle
for high life« uneingeschränkt herrschen wird *)
Eben dieser Unkenntniss über das Wesen des Lebens
und des Denkens, d. i. über dasjenige, was kennen zu lernen
für uns den höchsten "Werth hätte, ist die Verschlimmerung
der sozialen Krankheit, des internationalen Uebels, zuzusehreiben
, das gerade die am meisten skeptischen Köpfe
heutzutage in Verwirrung bringt. Ebendaher kommt auch
jene Ignoranz, welche die Reaktion verschuldet, die aus
Furcht davor seit einiger Zeit sogar die „Aufgeklärten" zu
Gunsten veralteter religiöser Dogmen in den Schoss der
Mutter Kirche zurücktreibt. Solange man nicht weiss, was das
Leben ist, kann alles Wissen nur empirisch, chaotisch und
provisorisch sein. Dies ist das unter allen möglichen Formen
und namentlich unter derjenigen der Heuchelei verbreitete
allgemeine Uebel. Das Glück besteht ja nicht allein darin,
dass man lesen und schreiben kann, dass man verschiedene
Fertigkeiten versteht, dass man die Zahl der Gehirnzellen
anzugeben weiss, oder, dass man in einem Augenblick und
mit lauter Stimme sich von einem Kontinent zum andern
verständlich machen kann, auch nicht darin, dass man die
schönen Worte „Liebe, Solidarität, Barmherzigkeit" auf die
Fahne schreibt. Nein, nein, das genügt nicht. Die Seele
will erkannt und befriedigt sein! —
Das Scheitern der erlauchten Vertreter der exakten
Wissenschaft unter dem humanitären Gesichtspunkt ist da«
*) Um einen Vorgeschmack von einem solchen erbarmungslosen Kampf
ums Dasein zu erhalten, bei welchem der physisch und intellektuell Stärkere,
also Nietzsches Uebermensch, den Schwächeren mit brutaler Gewissenlosigkeit
niedertreten wird, braucht man nur an die Greuel der im Namen der hehren
Wissenschaft, nach dem Grundsatz : „Der Zweck heiligt das Mittel", geübten
Vivisektion und an den ruchlosen Krieg in Transvaal zu denken! — Red.
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