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340 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1900.)
Zu solchen Beispielen gehört auch dasjenige, welches
mir selbst vor bereits vielen Jahren vorkam, wobei ein
ganz unerwarteter, unwahrscheinlicher, durch einen sehr
seltenen Zufall herbeigeführter doppelter Todesfall eine geraume
Zeit zuvor, bei mehreren Personen zugleich, bisher
ungekannte schwere Gefühle, ja schaurige Traumbilder
hervorrief. Weil nun die Zahl der beschriebenen Fälle
dieser Art nicht allzugross ist , so halte ich es nicht für
überflüssig, den Lesern der „Psych. Studien" den meinigen
mitzutheilen.
Da dieser Fall meine nahen Verwandten betraf, so
muss ich hier Einiges über meine damaligen Familienverhältnisse
einrücken, Im Sommer d. J. 1853 war ich Abiturient
des Nowgorod'schen Gymnasiums und schickte mich
an, die medicochirurgische Akademie zu Petersburg zu beziehen
. Der jüngste von 12 Geschwistern, und seit meinem
12. Jahre elternlos, wurde ich auf die Schuljahre in einer
zum Gymnasium gehörenden Pension untergebracht; die
Ferien jedoch verbrachte ich regelmässig bei meinen Verwandten
in dem 30 Werst (etwas über 4 deutsche Meilen)
von Petersburg entfernten Orte Sisterbeck oder
Sestroretzk, und so war es auch diesmal. In Sisterbeck
befand (und befindet) sich eine bedeutende Militär-
waffenfabrik, oei der mein ältester Bruder Alexander &,
damals Artillerieoberstleutnant, und einer meiner Schwäger,
der .Ingenieurhauptmann Hausmann, angestellt waren,
letzterer als Leiter der Wasserwerke, welche die Fabrik in
Betrieb setzten. Das gebildete Publikum Sisterbeck's, aus
Offizieren, Beamten und einigen Ausländern bestehend, war
ein geselliges, gastliches Völkchen und es konnte dabei
nicht fehlen, dass dieser Ort auch aus der nahen Residenz
Besuche empfing; namentlich wurden meine Verwandten
von Petersburger Verwandten und Bekannten öfters besucht
. So war auch dieses Mal um die Mitte des Sommers
eine Gesellschaft auf einige Tage herübergekommen und
wurde theils bei dem Bruder, theils beim Schwager untergebracht
. Bei ersterem war unter Andern mein Bruder
Ludwig 8. abgestiegen. Er war 32 Jahre alt, Jurist und
Philolog, damals Lehrer an einem Petersburger Kadettenkorps
, unverheirathet, gesund, von lebhaftem Temperament,
ein guter Schwimmer und Tänzer und witziger Gesellschafter
, der dabei seine Studien nie vergass; so hatte er
auch dieses Mal eine Sammlung russischer Sprichwörter
mit sich gebracht, an der er gerade arbeitete und die
leider unvollendet bleiben sollte. Bei Hausmann's wohnten
ausser einigen Verwandten des Schwagers, die Angehörigen
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