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Seiling: Weiteres zur Psychologie in der Christenthumsfrage. 373
wenn die Frau und die Leibesfrucht so geschont werden
sollen, wie es der gewöhnliche Mensch freilich erst von den
Thieren zu lernen hätte, dann entstehen für den Mann viele
Monate währende Perioden einer Enthaltsamkeit, welche
ebenso schwer, ja schwerer durchzuführen sind, wie die
absolute Keuschheit. In diesem Sinne erkläre ich mir das
Luther'sche: „Will die Frau nicht, so komm' die Magd/'
Thatsächlich hat denn auch Luther mit der Polygamie mehr
als geliebäugelt. Ueber diesen Punkt lese man in Döttingens
„Reformation**, Bd. II das 15. Kapitel nach, das vom Einfluss
der Reformation auf die sittliche Haltung des Volkes in
geschlechtlicher Beziehung handelt. Da dieses Werk nur
wenigen Lesern der „Psych. Stud." zugänglich sein dürfte,
möchte ich einige Sätze anführen. Nach Döttinger hat Luther
gesagt: „Es ist nicht verboten, dass ein Mann nicht mehr
denn ein Weib haben dürfe. Ich könnte es noch heute nicht
wehren, aber rathen wollte ich es nicht." In den Tischreden
erklärte Luther die Verbindungen mit Kebsweibern und
Konkubinen für „rechte Ehen vor Gott, und ob es wohl
ärgerlich ist, doch schadet solch Aergerniss nicht." Herzog
Georg von Sachsen hat dem Reformator schon im Jahre 1526
vorgeworfen: „Wann hat man dem Ehemann die Weiber
genommen und Anderen gegeben, wie man es jetzt findet
in Deinem Evangelio? Wann sind mehr Ehebrüche geschehen,
denn seit Du geschrieben: Wo eine Frau von ihrem Mann
nicht kann fruchtbar werden, so soll sie zu einem anderen
gehen und Früchte zeugen, die der Mann ernähren müsse;
also thue der Mann wieder? Dies hat Dein Evangelium
gebracht, das Du unter der Bank herfürgezogen." Nach
Staphylus hat sich Luther selbst beklagt, dass die Leute bei
seinem Evangelio zehnfach böser geworden seien, als sie
zuvor im Papstthum gewesen. —
Wenn Döttingens Darstellung richtig ist — und ich habe
keinen Grund, dies zu bezweifeln, — dann kann ich es mir
ersparen, mich von einer „Königl. Preuss. hochkirchlichen
Instanz" über den Sachverhalt bei der Doppelehe Philippus
von Hessen belehren zu lassen. Warum sollte ich denn „das
Sprachrohr der katholischen Kirche" nicht benützen? Ich
habe gefunden, dass man im Allgemeinen in katholischen
Kreisen viel richtiger über den Protestantismus urtheilt, als
umgekehrt. So schrieb denn auch Nietzsche in früheren Jahren
an einen Freund (Baron Seydlitz): „Die tollen und abgeschmackten
Lügen, die in protestantischen Ländern über
den Katholici8mus in Schwang sind, sind nicht nur absurd,
sondern uns sehr schädlich." Ein ausserhalb des konfessionellen
Cbristenthums Stehender wird zudem nicht
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