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416 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 7. Heft (Juli 1100.)
vollkommen plastisch, mit blassem Gesichte, eingefallenen
Augen, in dunkler Kleidung. Er erhebt sich aus dem Sarge,
winkt ihr, tritt auf sie zu. Manchmal fühlt sie, wie er ihr
die Hand giebt; er ruft immer nur ihren Vornamen mit
dem Zusatz „komme" und geht dann fort; meistens ist die
Gesichtshallucination das Primäre, mitunter hört sie auch
seine Stimme. Seine Hand fühlt sich kalt an. Mit den
Hallucinationen verbindet sich ein auf das Sternum locali-
sirtes Angstgefühl mit Herzklopfen, tritt aber zeitweise auch
ohne Hallucinationen ein. Anderartige Hallucinationen hat
sie nie gehabt.
Die Erscheinungen gelten ihr als durchaus real, und
sie hält an der Realität derselben hartnäckig fest: — „Sie
sehe sie ja so deutlich"; — einer Correctur ist sie völlig
unzugänglich. Die Erscheinung kommt immer nur in geschlossenen
Räumen, öfters, wenn sie allein ist, mitunter
auch in Gesellschaft. Dann wird sie traurig und muss aus
der Gesellschaft fort. Früher dachte sie oft daran, sich
das Leben zu nehmen.
Ueber Zweck und Ziel der Erscheinungen macht sie
sich keine besonderen Vorstellungen, zieht keine logischen
Consequenzen daraus. Sie weiss nicht, warum der Vater
kommt und ob er will, dass sie sich das Leben nehmen
soll; doch glaubt sie das eigentlich kaum, da sie ihrer
Geschwister wegen leben muss. Seit circa neun Wochen
vor der Aufnahme ins Krankenhaus hört sie ihren Vater
auch im wachen Zustande nach ihr rufen.
Sie fühlt sich sehr unglücklich und macht sich Vorwürfe,
wenn sie in heiterer Gesellschaft ist. Seit etwa einem
Vierteljahre ist, wie sie nach der Aufnahme berichtet, alles
schlimmer geworden. Die Erscheinungen kommen öfter,
die Angst häufiger, sodass sie gar keine Ruhe mehr finden
kann. Sie kann nicht schlafen, werde durch ängstliche
Träume, die sich hauptsächlich um die Person ihres Vaters
drehen, aufgeschreckt. Sie sieht ihn teils in seiner JKjrank*"
heit, theils im Sarge liegend. Dann wiederholt sich die
Vision auch im Wachen öfters, ist ebenso plastisch und klar,
wie im Schlafe. Es besteht dabei heftiger Schmerz im
Hinterkopfe. —
Im September 1894, also wenige Monate vor ihrer Aufnahme
, simulirtedie Patientin völlig unvermittelt und unbegründet
die Feier einer Verlobung. Sie Hess sich Photo-
graphieen anfertigen, Blumen zusenden und schrieb an
einen Rechtsanwalt in Nizza, der thatsächlich gar nicht
existirte, eine ganze Anzahl von Briefen, erhielt auch selbst
solche, die übrigens natürlich ihr eigenes Werk waren.
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