http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1900/0420
W. Böhm Ein Fall von doppeltem Bewusstsein. 417
In einem Briefe, den sie am 4. XII. an ihre Mutter
schrieb, berichtet sie selbst folgendermaassen über diese
Affaire: „Ich muss jetzt wieder soviel an die Verlobung
denken — die Gedanken sind wieder da und lassen mich
nicht. Ich kann doch nicht dafür, ich musste es doch thun,
ohne böse Absicht, musste doch die Briefe schreiben, weil
ich dachte, dass ich selbst solche erhalten und darauf antworten
müs8te. Und ich konnte ihn mir doch auch denken,
ohne ein Bild von ihm gesehen zu haben — wie mag das
geschehen sein? Ich weiss es nicht."
Zu Hause scheinen sie übrigens die Einreden ihrer Angehörigen
in ihren Liebesträumereien gestört zu haben.
Während eines Aufenthaltes bei Verwandten dagegen blieb
sie sich selbst überlassen und konnte sich in ihre pathologischen
Phantasien einleben. Sie schreibt, ganz consequent,
darüber an ihren vermeintlichen Bräutigam von diesem Aufenthalte
aus: „Hier unter den guten Menschen kann man wohl
kaum mit sich selbst in Conflict kommen, aber zu Hause, wo
man so vielen Angriffen, soviel Neid und Bosheit ausgesetzt ist,
wird mir das Leben oft schwer und macht mir wenig Freude."
Mündlich äusserte sie sich später über den ganzen Vorfall
dahin, sie habe das thun müssen, es sei ihr plötzlich
eingekommen, sie habe fest daran geglaubt, dass sie verlobt
gewesen sei, habe auch in dieser Ueberzeugung die Briefe
an den Rechtsanwalt in Nizza geschrieben. Gesehen habe
sie den Mann nicht, geantwortet habe er auch nicht. Erst
wie ihr die Mutter gesagt habe, es sei alles nicht wahr,
habe sie auch geglaubt, dass es nicht recht sei. Dies sei
vor acht Tagen geschehen; sie habe dann selbst eingesehen
dass die Verlobung nur eine Erfindung von ihr war.
In meinen Händen befanden sich bei Abfassung dieses der
ärztlichen Krankengeschichte entnommenen Berichtes drei
Briefe aus jener Zeit. Zwei davon zeigen eine kräftige ausgeschriebene
Männerhand, einer eine feine sentimentale Damenschrift
. Die Gleichartigkeit der Schrift in den beiden Briefen
des „Rechtsanwalts" einerseits, andererseits die Ueberein-
stimmung des Schriftcharakters mit einem späteren Briefe
(1897) der Patientin an ihren behandelnden Arzt, zeigt, wie
weit die Trennung der beiden Rollen in der Psyche des
damals allerdings nicht ärztlich beobachteten Mädchens gediehen
war. Uebrigens bedient sich die Patientin in allen
Briefen der deutschen Buchstaben. Etwa eine graphologische
Charakteristik ihrer verschiedenen Persönlichkeitszustände aus
diesen auf der beigegebenen Tafel facsimilirten Schriftarten
zu entwickeln, liegt mir fern und interessirt wohl mehr den
Juristen als den Arzt. Dass ein grosser Unterschied die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1900/0420