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430 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1900.)
Descartes, er sei mit irgend jemand in einen heftigen Streit
verwickelt, der schliesslich zu einem Duell führte, wobei er
selbst einen Degenstich erhielt, an dem er erwachte. Besprengen
wir eine schlafende Person mit kaltem Wasser, so
wird sie etwa von Gletscherfirnen, Eismeeren und Eisbären
träumen, bis endlich ein Schlusseffekt die Reihe der sonderbaren
Traumbilder zum Abschluss bringt. So irrt aber
auch der wache Mensch sehr häufig dadurch, dass er an
absolut falsche Voraussetzungen relativ richtige Folgernugen
anknüpft.
Hach Nietzsche bringt uns das Traumdenken also in
ferne Zustände der menschlichen Kultur wieder zurück, deren
Repräsentanten die heutigen Wilden sind, die sich auch
niemals bemühen, einer Erscheinung ganz auf den Grund
zu kommen, sondern sich regelmässig mit der oberflächlichsten,
weil naheliegendsten Erklärung begnügen. Dem halt Verf.
mit Recht entgegen, dass ganz derselbe Vorgang noch heute
keineswegs blos bei unzivilisirten Völkern, wie den Indianern
des Westens, sondern auch bei den in der Kulturentwickelung
fortgeschrittensten Menschen am hellen Tage zu beobachten
ist. (Welcher auf okkultem Gebiet orientirte Forscher denkt
hierbei nicht an die so oft übereilte Anwendung der
spiritistischen Hypothese auf unerklärte mediumistische
Phänomene? — Red.) Erst nach längerer Vertrautheit mit
einem unserer Beobachtung unterstellten Objekte, erst nachdem
wir alle seine Besonderheiten, seine im Vergleich mit
ähnlichen Objekten gleichartigen oder abweichenden Eigenschaften
kennen und abschätzen gelernt haben, gelangen
wir zu einer endgiltigen Erklärung, die mit der provisorisch
abgegebenen durchaus in Widerspruch stehen kann. Je
reicher und umfassender daher unser Wissen wird, desto
mehr wird der Kreis des „Unerklärlichen" eingeschränkt
werden. Was wir aber da vor dem Urmenschen und dem
Ungebildeten voraus haben, ist nach Ansicht des Verf.
weniger die (allerdings auch stark ins Gewicht fallende)
grössere Schulung unserer intellektuellen Fähigkeiten, als
vielmehr der unendlich reichere, umfassendere Schatz an
praktischer Erfahrung.
Im Traum sinkt nach ihm der Mensch keineswegs in
den Urzustand des Menschenthums zurück, vielmehr kann
gerade die Regel- und Zügellosigkeit der Traumphantasie
als Beweis dafür herangezogen werden, dass das Gehirn
nicht selbstständig ist, sondern nur das Werkzeug
eines höheren Prinzips —, nenne man es nun Seele
oder Geist, und dass in dem Augenblick, wo dieses die
Herrschaft verliert, — (über das Wie? und das Warum?
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