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454 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1900.)
aber empfand ich erst etwa nach einer Stunde. Während
des Falles stellte sich die erwähnte Gedankenfluth ein. Was
ich in fünf bis zehn Minuten gedacht und gefühlt habe,
lässt sich in zehn Mal mehr Minuten nicht erzählen. Alle
Gedankenund Vorstellungen waren zusammenhängend
und sehr klar, keineswegs traumhaft verwischt.
Zunächst übersah ich die Möglichkeit meines Schicksals und
sagte mir: der Felskopf, über den ich nächstens hinausgeworfen
werde, fällt unten offenbar als steile Wand ab, denn er
verdeckte den unten folgenden Boden für meinen Blick. Es
kommt nun ganz darauf an, ob unter der Felswand noch
Schnee liegt* Wenn dies der Fall ist, so wird der Schnee
von der Wand abgeschmolzen sein und eine Kante bilden.
Falle ich auf die Schneekante, so kann ich mit dem Leben
davonkommen; ist aber unten kein Schnee mehr, so stürze
ich ohne Zweifel in den Felsschutt hinab, und dann ist bei
dieser Sturzgeschwindigkeit der Tod ganz unvermeidlich.
Bin ich unten nicht todt und nicht bewusstlos, so muss ich
sofort nach dem kleinen Fläschchen Essigäther greifen, das
ich beim Weggehen vom Säntis nicht mehr in der Touristenapotheke
geborgen, sondern nur in die Westentasche gesteckt
habe, und davon einige Tropfen auf die Zunge nehmen.
Den Stock will ich nicht fallen lassen. Vielleicht kann er
mir noch nützen. Ich behielt ihn denn auch fest in der
Hand. Ich dachte daran, die Brille wegzunehmen und fortzuwerfen
, damit nicht etwa ihre Splitter die Augen verletzten,
allein ich wurde derart geworfen und geschleudert, dass ich
der Bewegung meiner Hände hierfür nicht mächtig werden
konnte. Eine andere Gedanken- und Vorstellungsgruppe
betraf die Folgen meines Sturzes für die Hinterbliebenen.
Ich sagte mir, dass ich, unten angekommen, gleichgültig,
ob ich schwer verletzt sei oder nicht, jedenfalls, wenn mir
möglich, sofort aus Leibeskräften rufen müsse: „Es hat mir
gar nichts gethan!" damit meine Begleiter, mein Bruder
und drei Freunde, aus dem Schrecken sich soweit aufraffen
könnten, um überhaupt den ziemlich schwierigen Abstieg
zu mir herab zu Stande zu bringen. Ich dachte daran,
dass ich nun meine auf fünf Tage später angekündigte
Antrittsvorlesung als Privatdozent jedenfalls nicht halten
könne. Ich übersah, wie die Nachricht meines Todes bei
den Meinigen eintraf, und tröstete sie in Gedanken. Dann
sah ich, wie auf einer Bühne, aus einiger Entfernung mein
ganzes vergangenes Leben in zahlreichen Bildern sich abspielen
. Ich sah mich selbst alsagirende Hauptperson.
Alles war wie verklärt von einem himmlischen
Lichte, und Alles war schön und ohne Schmerz, ohne
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