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Litteraturberlcht.
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Arbeitsleistung der Nervenzelle; in den Ganglienzellen der genial veranlagten
Persönlichkeit wäre dann die Arbeit von Generationen aufgesammelt
und durch bestimmte Reize (Eindrücke) explosiv entladbar, worin auch der
Bethatigungsdrang des Genies seine physiologische Erklärung finden könnte.
— Dem Verf. erscheint die Sociologie nicht als die abhängige, sondern als
die bestimmende Variable gegenüber der Biologie. Das Genie besteht in
einer bestimmten biologischen Organisation, welche unter Vererbung angeborener
oder erworbener Eigenschalten im Laufe von Generationen (nicht
bewusst natürlich, sondern im Sinne der JUarwtn'scken Zuchtwahl) gezüchtet
wurden. Die erworbenen geistigen Eigenschaften sind Gegenstand der Sociologie
, da sie nur aus der Umwelt stammen können. Wenn die moderne
Geschichtsauffassung sich das Ziel setzt, dieGesetze deshistorischen
Werdens zu finden, so hat sie auch die Pflicht, das Genie, die grosse
Persönlichkeit aus diesen Gesetzen heraus verständlich zu machen. Dies
haben, mit mehr oder weniger Geschick, neuerdings hauptsächlich die
Vertreter des Marxismus, bezw. des historischen (besser: ökonomischen)
Materialismus versucht, in welchem Verf. mit Recht einen psychologisch
nothwendigen Rückschlag gegen die ideologisch pragmatische Geschichtsschreibung
erblickt. Im Sinne dieser namentlich von Raulsky vertretenen
Richtung kann man, während die Philosophie im modernen Verstand als
„Wissenschaft der Principien" sich von den zufälligen Beeinflussungen des
Lebens emancipirt und ihre eigenen ideellen Fortpflanzungsreihen gewinnt,
sogar metaphysische Systeme, wie Schelting's Identitätslehre oder Strauss*
aufgewärmten Materialismus leicht aus der Gesammtstruktur der Zeit, jene
aus der feudalistischen Reaktion, diesen aus dem Kapitalismus der Bourgeoisie
erklären. Allein die Beziehungen zwischen ökonomischer und ideeller Bewegung
sind im ganzen Ablauf ebenso wie in jedem Einzelmoment unendlich
viel reicher und komplicirter, viel labiler und wechselnder, als die auf den
ersten Anblick bestechend einfache Formel der marxistischen Dogmatik
ahnen lässt; eben gegen diese Stelle, wo der scholastische Sonnenstich am
verheerendsten gewirkt hat, richtet Verf., um uns seines eigenen Bildes zu
bedienen, in erster Linie den wohlthuend abkühlenden Wasserstrahl seines
die in Selbsttäuschung stagmrende Atmosphäre reinigenden Gewitterregens.
Kail Bücher verdanken wir die Erkenntniss, dass alle Anfänge geistigen
Schafiens sich innerhalb des wirthschaftlichen Arbeitsprozesses vorfinden.
Und doch hat die wirtschaftliche Arbeit jene Anfänge nicht geliefert,
die sich vielmehr als Reaktion des urmenschlichen Organismus
gegen die harte Zumuthung der Arbeitsleistung im Kampf
ums Dasein darstellen. Nach (iumplowicz% der den Klassenkampf, welchem
Marx das geschichteproducirende Monopol verleihen wollte, zum Gruppenkampf
erweitert, zeichnet sich das Genie durch seine Fähigkeit aus, die
Interessen einer Gruppe gegenüber der antagonistischen am klarsten zu
erkennen, die Hilfsmittel für den vorliegenden Zweck am raschesten zu
finden und am geschicktesten anzuwenden. Verf. betont mit Recht auch
die suggestive, oft fast hypnotische Kraft einer grossen Persönlichkeit,
welcher die Massen sich desto blinder hingeben, je intensiver ihre momentanen
Bedürfnisse sind. Nach ihm ist diese Suggestion vielleicht das Dritte,
was neben Intuition und Explosion den Genius kennzeichnet. Dabei
steht ihm aber fest, dass es ganz unmöglich ist, in den verschiedenen
Konstellationen, unter welchen Genies in die Welt getreten sind, einen
einheitlichen Zug ausfindig zu machen. Gtimplowicz und Carl Jentsch
sind nicht im Recht, wenn sie dem Genius eine nur quantitative Bedeutung
zuschreiben. Dass auch der grösste Mensch der Entwickelung sich nicht entgegenstemmen
kann, hätte sogar Ranke ohne Weiteres zugegeben. Der Genius
wird immer die gegebene Lage ergreifen müssen, je mehr er aber vermocht
hat, sie zu verstehen, desto mehr wird er im Stande sein, sie auch qualitativ
zu beeinflussen. Die moderne Geschichtsanschauung, ob marxistisch oder
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