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Unger: Träumen und Sterben.
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gewiss an und für sich keineswegs von niedriger Gesinnung
zeugt, schon weil sie den mächtigsten aller selbstischen
Triebe aufhebt, so kann doch andererseits ebensowenig
bestritten werden, dass ein pflichtgetreues Ausharren unter
sehr schwierigen Lebensverhältnissen, ein uneigennütziges,
opferfreudiges Weiterwirken zum Wohle der Angehörigen,
bezw. der Nebenmenschen ethisch höher steht und zu be-
werthen ist, weil es einen noch weit höheren Grad von
moralischem Muth erfordert, den Unterzeichneter
geradezu als das charakteristische Kennzeichen des auf einer
höheren geistigen und sittlichen Warte stehenden Weisen,
im Unterschied vom eiteln, thörichten, nur auf das Phantom
der „Ekre" und auf eigenen Genuss bedachten 8chein-
menschen, bezeichnen möchte. —
Verf., der uns durch seine theoretischen und praktischen
Bemühungen um eine im höheren Sinne fortschrittliche Lösung
der sozialen Frage längst vortheilhaft bekannt ist, würde,
— gewiss mit vollem Recht — im weiteren Umsichgreifen
der (dank der materialistischen, auch in den Arbeiterkreisen
als wissenschaftlich feststehende „Wahrheit" verkündeten und
angepriesenen Weltauffassung allüberall immer weitergehendes
Unheil anrichtenden) Selbstmordmanie geradezu ein
Hemmniss für jeden sozialen Fortschritt erblicken;
denn wenn die Flucht aus dem Leben so leicht gemacht
wäre, wozu dann den Kampf gegen Unrecht, Armuth, Elend
und Krankheit bis ans Ende fortführen? Mit der Gewissheit,
dass auf den Tod wirklich gar nichts nachfolgt ? fiele überdies
auch die Todesangst weg, deren entsetzliche Seelenqualen
für den Verbrecher schlimmer als die ihm drohende Hinrichtung
sind, ein Nebenumstand, der freilich für einen
prinzipiellen Gegner der Todesstrafe nicht schwer ins Gewicht
fallen könnte, wenn auch a priori kaum zu erwarten sein
dürfte, dass die Zahl der Verbrechen mit der gänzlichen
Beseitigung der Angst vor der äussersten Strafe im Diesseits
und vor einer möglichen Verantwortung in einem unbekannten
Jenseits in absehbarer Zeit vermindert würde.
Die Lehre vom rechtzeitigen Sterben ist offenbar der
wundeste, unhaltbarste Punkt in Nietzsches sonst so gross
angelegtem, in manchen Einzelheiten bewundernswürdigem
philosophischem System. Es ist ein wahrhaft ergreifendes
Verhängniss, dass der Denker, der das stolze Wort gesprochen
hat: „Mancher wird auch für seine Wahrheiten zu alt" und:
„Jeder, der Kuhm haben will, muss sich bei Zeiten verabschieden
und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu
gehen", nachdem er selbst glänzende Geistessiege errungen
und den Gipfel seines Ruhmes erklommen hatte, aus der
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