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Unger: Träumen und Sterben.
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keinen Glauben schenken will, jedenfalls noch weniger als
beweisen —, was wäre denn dadurch gewonnen, dass das
Haus zum Einsturz gebracht wurde, wenn der Hausherr
dadurch nur obdachlos, nicht aber auch empfindungslos
geworden ist? —
Solcher Erwägungen, die wohl zu allen Zeiten und bis
auf den heutigen Tag einem noch weiteren Umsichgreifen
der Selbstmordmanie Einhalt thaten, haben sich von jeher
die Religionen bemächtigt, die dem Selbstmörder eine
unvorstellbar elende Nachexistenz in Aussicht zu stellen
pflegen. Auch Nietzsche weist die Berechtigung einer solchen
Anschauung — wohl in der richtigen Erkenntniss, dass die
dem endlichen Verstand des staubgeborenen Menschen freilich
unvorstellbare Existenz eines selbstbewussten allerhöchsten
Wesens logisch durchaus nicht undenkbar ist, — nicht ohne
Weiteres zurück, indem er (1. c. 185. Aphor.) sagt: „Nur
unter der religiösen Beleuchtung kann das Gegentheil (der
Auffassung des natürlichen Todes als des Selbstmordes der
Natur) erscheinen, weil dann, wie billig, die höhere Vernunft
(Gottes) ihren Befehl giebt, dem die irdische Vernunft sich
zu fügen hat. Von der Religion abgesehen, ist der natürliche
Tod keiner Verherrlichung werth.44 Warum sollten wir aber
auf solche doch immerhin mögliche Gefahren hin, nach
trotziger Kinder Art, dem Tode entgegenlaufen, wenn er
sich ohnehin uns nähert, Schritt für Schritt, ohne einen
Augenblick zu zögern ? Wie könnte auch der einsichtsvollste
Philosoph, der doch mit Sokrates bekennen muss, dass er
nur das Eine bestimmt weiss, dass er über jene letzten
und für Jeden wichtigsten Fragen nichts Bestimmtes
weiss, die moralische Verantwortung übernehmen, durch
solche, im letzten Grund unbedachte, auf blosse Scheingründe
gestützte Behauptungen andere, geistig mehr oder weniger
Unmündige suggestiv zu einem Schritt zu ermuntern, der
für ihre Angehörigen sicher den bittersten Schmerz und für
sie selbst möglicherweise das tiefste seelische Elend bedeutet?
Mag auch der eine unseres Erachtens zu früh, der andere
zu spät aus seiner irdischen Laufbahn abberufen werden,
die Sache des Einzelnen kann es nimmermehr sein, dies auszugleichen
oder ein endgiltiges Urtheil darüber zu fällen! —
Nietzsche glaubt an den Untergang der jetzigen Generation,
die schon an ihrer Entartung, an ihrem geistigen Niedergang
, wie sich derselbe besonders durch das unvernünftige,
ruhelose Streben nach einem unauffindbaren, weil unmöglichen
Glück eharakterisirt, unfehlbar zu Grunde gehen müsse.
Eben deshalb — also lediglich dieser seiner pessimistischen
Grundstimmung zu liebe — hält er es dann für verdienst-
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