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500 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 8. Heft. (August 1900.)
lieh, was doch nicht der Fall sein könnte, wenn eine oder die
andere richtig wäre; von einer Erklärung der Zeugung und
der damit verbundenen Vererbung und vollends der Be-
wusstseinskundgebungen ganz und gar zu schweigen!
Verf. bespricht nun zunächst die jüngste dieser Theorien,
die metabolische Theorie des geistreichen Wiener Gelehrten
Prof. Dr. Max Kassowitz, welcher nachweist, dass die bisherigen
Theorien (wie namentlich die von J. R. Mayer aufgestellte
thermodynamische, die ihr nachgefolgte physiologische
Kalorientheorie und die von Nagelt begründete, von Voit
ausgebildete molekular-physikalische Theorie) sämmtlich mit
offenbar falschen Voraussetzungen operiren, indem sie es
als wissenschaftliches Dogma hinstellen: 1) dass das lebende
Protoplasma nur aus Eiweiss bestehe*) und 2) dass
die eingeführten Nahrungsstoffe die Verbrennung liefern, ohne
sich zuvor am Aufbau des Organismus zu beteiligen. Er
selbst ibrmulirt die biologischen Grundprobleme in zwei
Fragen: 1) Was geschieht mit den Nahrungsstoffen im
Protoplasma ? 2) Welche Wirkungen enthalten die Reize in
der lebenden Substanz? Er geht davon aus, dass „wir über
die Zusammensetzung des Protoplasma zwar Vermuthungen
und Hypothesen aufstellen, niemals aber eine wirkliebe, auf
direkter Untersuchung basirende Kenntniss erlangen können,
weil schon die ersten vorbereitenden Schritte zu einer
chemischen Analyse eine Ertödtung und sicher auch eine
durchgreifende chemische Umsetzung in dieser so überaus
veränderlichen Substanz herbeiführen müssen." Trotzdem
will er selbst justament eine auf die bekannten Gesetze der
Mechanik gegründete Erklärung aufbauen, womit sein Versuch
von allem Anfange an der Vorschrift einer gebundenen
Marschroute folgt. Ueberdies hat seine eigene Theorie den
in die Augen springenden Mangel, dass er zur Herstellung
von Protoplasmamolekülen selbst bereits das Vorhandensein
und die Mitwirkung von lebenden Protoplasmazellen als
nothwendig hinstellt. Es lässt sich eben durch keine noch
so geistreiche Sophistikation in Abrede stellen: nur Leben
erzeugt wieder Leben!
Nach den Inschauergebnissen des Verf. ist die Gesetzmässigkeit
, nach welcher die Stoffe zu lebendem Protoplasma
*) Auch der unseren Lesern wohlbekannte Privatgelehrte 1\ C. Revel
in Lyon hat schon in seinem im Juni 1893 an den Berichterstatter gerichteten
offenen Brief (s. seinen „Entwurf eines auf das Gesetz des Zufalls gegründeten
Systems der Natur, übersetzt von Feilgenhauert Leipzig bei Max Spoftr,
S. 213 Fussnote) sich dahin ausgesprochen: „Der Charakter der Homogenität
, den man dem Protoplasma zuschreibt, ist ein Irrthum, den wohl die
Vervollkommnung der A,uflösungsmittel der Zukunft umstossen wird. Da wird
die Form der Zellengruppirung sich wieder finden."
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