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Maier: Naturwissenschaftliche Seelenforschung. 5ßl
keine „logischen Denkgesetze1', keine Erkenntniss des
Zusammenhangs der Funktionen.
Im Wege der Inschau stellt sich das Urtheilen dar
als eine Adäquation einer Willensidee mit einer zweiten
Idee überhaupt, und zwar liefert die Adäquation mit einer
objektivisch hervorgerufenen Wirklichkeitsvorstellung Wirk-
lichkeitsurtheile. Jegliches Urtheil besteht demgemäss
aus zweierlei Vorstellungen: aus einer gewollten reaktivirten
oder reproduzirten und aus einer hinzutretenden, sich erst
aus verschiedenen Einzelempfindungen konstruirenden, d. i.
aus einer Willensidee und einer Objekt idee.
Ferner ist das Urtheil entweder analytisch reflektirend
oder synthetisch subsummirend, je nachdem die eine
Idee zu der anderen hinzutritt: entweder wird subjektivisch
eine vollständige Idee reproduzirt und die aus Wahrnehmungen
gebildete Idee zur Adäquation gebracht, oder
aber zu der durch Wahrnehmungen entstandenen Idee tritt
die sich ihr adäquat assoziirende, im Gedächtniss vorhandene
Idee hinzu. Dem Urtheilen muss also das Kennenlernen
bereits vorangegangen sein; es gründet sich auf Wissen und
zwar entweder auf selbsterfahrenes wirkliches oder auf sprachlich
mitgetheiltes, surrogatives Wissen. Begriffe sind
die sprachlichen Repräsentanten für bewusste Empfindungen
von objektiven — oder subjektiven Wirkungen, für
Bewusstwerdungen von objektiven oder subjektiven Eigenschaften
und Vorgängen. Den begrifflich konstruirten Sprachbildern
können wir eine Giftigkeit nur bedingungsweise
zugestehen, wenn uns nämlich die Möglichkeit offen bleibt,
das blos sprachlich Vorgestellte auch wirklich zu erleben,
die Gegenstände der Sprachbilder als Erlebnisse in uns
aufzunehmen, nicht als Sprachvorstellungen, sondern
als Wirklichkeitsvorstellungen; Hypothesen haben
daher für die Wissenschaft keinen reellen, sondern nur
heuristischen Werth.
Verstehen im sprachlichen Sinne heisst das Hervorrufen
von Vorstellungen mittels Lauten und Lautverbindungen;
im subjektiven Sinn heisst Verstehen die Thatsächlichkeit
eines wirklichen erfahrbaren Geschehens kennen gelernt und
dem Schatze unseres Gedächtnisses einverleibt zu haben,
womit die Möglichkeit es wieder schwach vorzustellen, eventuell
zu beschreiben geboten ist. Verstehen im naturwissenschaftlichen
Sinne dagegen heisst eine starke Vorstellung
als Erfahrung von Wirklichkeit in Bezug auf die Ursachen
und Bedingungen ihres Entstehens nach Vorschrift des
Veränderungsgesetzes kennen gelernt zu haben, worauf
sich die Möglichkeit gründet, das Erfahrniss nicht nur
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